Dimitri – 25. August
Eilig winke ich Demetia, damit sie mir endlich folgt, bevor uns noch jemand durch das hohe Tor verschwinden sieht. Sie hat sich eng in ihren braunen Mantel gehüllt und folgt mir mit schnellen Schritten. Ihre Stiefel aus Kunstleder rascheln laut auf den trockenen Blättern, die der frühe Herbst von den Ästen geschüttelt hat. Bei mir angekommen schiebt sie ihre Hand in meine.
Sie trägt hellbraune Handschuhe aus weichem Fell, einen orangen Schal und eine unförmige, braune Mütze. Ihr Gesicht verschwindet beinahe in den großen Schal.
Ich dagegen habe meine Jacke an, Mützen, Schals oder Handschuhe mag ich nicht, weil sie kratzen und es mit ihnen zu warm wird. Sogar jetzt trage ich nur eine kurze Hose und Turnschuhe.
Inzwischen ist mir klar, dass ich besser auf meine Schwester gehört und etwas Wärmeres angezogen hätte. Der Herbst ist innerhalb von wenigen Tagen eingezogen, mit stürmischem Wind, Winterkälte und düsteren Regenwolken am Himmel.
Hand in Hand laufen wir durch den Wald, bis das große Haus hinter uns außer Sicht gerät. Die Blätter rascheln im Wind. Ich streiche mir meine Haare wiederholt eng an den Kopf, doch sie werden immer wieder zu einer unordentlichen Sturmfrisur aufgewirbelt. Früher lagen meine Haare immer von alleine eng um mein Gesicht. Ich bin völlig entnervt, als wir endlich eine kleine Lichtung erreichen. Demetia bleibt stehen.
„Hier?“, fragt sie. Ich höre ihrer Stimme an, dass sie nervös ist.
Ich sehe mich um und nicke. Die kleine Lichtung ist aus irgendeinem Grund nicht mit Pflanzen bewachsen. Mit dem Schuh schiebe ich ein paar alte Blätter zur Seite und lege die Erde darunter frei.
„Was – was machen wir?“, fragt Demetia.
Ich atme tief durch. Jetzt, da ich hier bin, habe ich keine Ahnung.
„Wir könnten … ein kleines Loch graben oder so“, schlage ich vor.
Demetia zögert: „Und wenn wir uns verschätzen? Dann haben wir eine tiefe Grube, aus der wir nicht heraus kommen.“
Ich kaue auf meiner Unterlippe. Ich habe keine Ahnung, wozu meine Kräfte fähig sind und wie ich sie kontrolliere. Die ganzen letzten Tage habe ich überlegt und die Situation durchgespielt, mit verschiedenen imaginären Ergebnissen: Wie ich einen Berg erschaffe, der den ganzen Wald überragt. Oder für mich und Demetia ein Schloss aus Erde baue. Oder wie ich hier stehe und nichts passiert.
„Ein kleiner Hügel?“, frage ich und deute auf die Mitte der Lichtung.
Demetia nickt: „Das könnte klappen. Fang aber alleine an.“
Ich atme tief durch und trete vor, während Demetia an den Rand der Lichtung geht. Ich schließe die Augen und versuche, mich zu konzentrieren. Wie rufe ich meine Macht? Ich habe furchtbare Angst, dass nichts passieren wird, und ich dann weiß, dass ich doch ein normaler Junge bin.
Ich strecke eine Hand aus und versuche, mir den Boden vorzustellen, den ich gerade noch gesehen habe.
„Hebe dich“, flüstere ich leise.
Ich spüre ein Kribbeln in meinen Händen, dass sich durch meinen Körper in meine Füße ausbreitet – und vor dort aus weiter zu kriechen scheint.
Das Boden scheint zu vibrieren.
„Dimitri!“, ruft Demetia warnend. Ich reiße die Augen auf.
In der Mitte der Lichtung schießt ein Hügel in die Höhe und türmt sich schnell zu einem kleinen Berg auf, der beinahe größer ist als ich.
Meine Hände pulsieren schmerzhaft. Mein Herz raste und der Berg türmt sich immer höher und höher auf, wird größer und größer. Für einen Moment glaube ich, ein Gesicht im Stein zu sehen, eine riesige Fratze mit glühenden Augen. Das Entsetzen durchfährt mich wie eine Flutwelle, wie in einem meiner Alpträume, wo ich hinter Demetia hergelaufen bin und sie einholen wollte, aber als ich sie eingeholt hatte, hat sie sich umgedreht und ihr Gesicht war weg, einfach weg.
Ich schmeiße die Hände von mir, als wären sie voller Feuer. Der Schwung reißt mich hinterher, ich stolpere.
„Demia! Hilfe!“, schreie ich.
Ich spüre, wie sie mich umklammert und an sich zieht. „Hör auf, Dimitri!“, ruft sie.
Doch ich habe keine Kontrolle mehr. Innerhalb von Sekunden zieht die Magie alle Kraft aus meinem Körper. Ich höre lautes Donnern und Rumpeln, Lärm, so ohrenbetäubend, dass ich nicht einmal sagen kann, von wo er stammt.
Die ganze Kraft wurde freigesetzt, unkontrolliert von mir.
Dann wird es schwarz um mich. Meine Kraft ist versiegt.