Das Leben geht manchmal seltsame Wege. Wege, von denen man dachte, sie niemals zu beschreiten. Ich bin auch so eine Person, die das von sich sagen kann. In Sachen Liebe gehe ich manchmal seltsame Wege, die andere ganz und gar nicht als normal empfinden. Doch was ist normal und was nicht?
Schon oft stellte ich mir die Frage, wie das passieren konnte, was zwischen uns geschehen ist. Auch jetzt, Jahre nachdem wir uns zum letzten Mal sahen, stelle ich mir noch diese Frage. Aber niemand konnte mir bisher eine Antwort darauf geben. Ich wüsste auch nicht, mit wem ich darüber sprechen sollte. Keiner hätte je Verständnis dafür gehabt, denn das, was wir taten, war etwas ganz anderes als eine normale Beziehung zu führen.
Es begann ganz zwanglos. Ein netter Plausch im Internet via Skype, wie er fast täglich vorkommt. Keiner wusste vom anderen, wer wirklich hinter dem Chatpartner steckte. Wir lasen gegenseitig unsere Geschichten, gaben Hinweise und Tipps. Und trotzdem war da etwas, was Saiten in mir zum Klingen brachte. Ich war nicht auf der Suche, er auch nicht. Das war von vornherein klar. Daher machte auch keiner von uns anzügliche Bemerkungen. Die waren wie ein unausgesprochenes Gesetz tabu.
Allerdings verband uns trotzdem etwas: Das Schreiben – unser Hobby. Ein Thema, zu dem wir uns endlos auslassen konnten, auch jetzt noch.
Durch einen dummen Zufall – oder war es doch beabsichtigt, schickte ich ihm eine Geschichte, die für eine Anthologie eines Verlages bestimmt war. Am Ende der Datei – meine kompletten Daten, mein voller Name, Anschrift, E-Mail, Geburtsdatum. Ich wusste nicht einmal mehr, dass sich diese Daten noch in der Datei befanden.
Danach Stille. Eine ganze Weile. Ich wusste nicht, warum und machte mir Gedanken, ob ich ihn vielleicht verletzt haben könnte. Aber dann: eine Mail von ihm. Meine Augen wurden immer größer, als ich diese öffnete und den Anhang sah. Eine Kopie seines Samariter-Ausweises mit Bild, Wohnort und Geburtsdatum. Dazu ein Hinweis, er wüsste nun von mir auch mehr, als er eigentlich wissen wollte, daher auch ein paar genauere Daten zu ihm.
Ich war geplättet und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
Die Jahre vergingen. Es blieb alles beim Alten. Wir schrieben fast regelmäßig via Skype. Ich war inzwischen geschieden und hatte einen neuen, festen Freund, der viel älter war als ich. Wir hatten trotzdem weiterhin Verbindung. Er, als der Beta-Leser und strenger Korrektor meiner Geschichten und inzwischen guter virtueller Freund. Mein realer Freund hatte nichts dagegen. Warum auch, er war nicht eifersüchtig, sondern ließ mir die Freiheit, die ich brauchte. Er schrieb selbst auch und wusste, dass es da manchmal Kontakt zu anderen Personen gab, mit denen man sich austauscht oder über Erfahrungen spricht.
Im Gegenzug hatte er die gleichen Rechte wie ich. Eifersucht gab es nicht zwischen uns, dafür endloses Vertrauen.
Durch einen Zufall kam mein Internet-Freund in die Gegend, in der mein Freund lebte. Wir nutzten die Gelegenheit zu einem realen Kennenlernen. So lange mussten wir warten, bis dies geschehen sollte.
Ich war aufgeregt wie verrückt. Mein Herz klopfte, als wolle es aus meiner Brust springen. Als der Zeiger der Uhr unaufhaltbar immer weiter vorrückte und die Zeit des Treffens nahte, tigerte ich durch das Haus, um mich abzulenken. Dann war es endlich so weit. Es klingelte. Ich stürzte zur Tür. Davor stand er, schüchtern und ein wenig verlegen. Anstatt ihn hereinzubitten, küsste ich ihn einfach.
Große, braune Augen schauten mich erschrocken an. Doch der Kuss wurde zaghaft erwidert. Ich spürte sein Herz klopfen, genauso heftig wie meines. Völlig durcheinander bat ich ihn endlich herein. Mein Freund hatte sich diskret zurückgezogen. Als wir das Wohnzimmer betraten, blickte er uns frech grinsend entgegen. Wie so oft, hatte er eher bemerkt als ich, was los war. Ich fand es anfangs schrecklich, immerhin war er mein Freund, den ich liebte und dann küsste ich einfach einen anderen, das auch noch in seinem Haus. Doch sein Blick sagte mir, da wäre nichts, was er nicht gutheißen würde.
Der Abend verlief sehr lustig. Wir redeten, manchmal alle durcheinander, dass niemand ein Wort verstand. Er machte Witze über meine langen, lackierten Fingernägel. Ich lachte darüber und foppte ihn. Krampfhaft versuchte ich, nicht an den Kuss zu denken, doch nichts half, ich musste daran denken, ob ich wollte oder nicht. Erst spät in der Nacht verabschiedeten wir unserem neuen, alten Freund, der in einem Hotel in der Stadt ein Zimmer gebucht hatte.
Später im Bett sagte mein Freund zu mir, wenn ich möchte, könnte ich ihn sozusagen als Zweitfreund an meine Seite nehmen. Nicht zum ersten Mal an diesen Abend war ich baff. Ich wusste zwar, dass mein Freund diesbezüglich sehr offen war, aber dass er es so ernst meinte, ahnte ich bis dahin nicht. Ich wollte es mir noch einmal überlegen, obwohl es eigentlich gar nichts zu überlegen gab. Die einzige Bedingung war, immer offen zu sein und sich nicht zu verlieben. Gerade letzteres war einfacher gesagt als getan.
Die Jahre vergingen. Wir führten eine schöne Dreierbeziehung, die ich mit allen Sinnen genoss. Ich fühlte mich geliebt und begehrt, von beiden gleichermaßen. Dann geschah das, was eigentlich vermieden werden sollte. Ich verliebte mich in meinen Zweitfreund. Ich war hin und weg und fühlte mich wie ein Teenager.
Es blieb nicht unbemerkt. Mein Freund sprach mich darauf an. Ich stritt es ab und erklärte, zu einer Liebe gehöre mehr, als sich ein paar Mal im Jahr zu treffen und Sex zu machen. Er bestand auf seiner Meinung, er kannte mich besser als ich es ahnte. Es blieb bei diesem einen Mal der direkten Ansprache auf meine Gefühle, ich bemerkte aber, dass er mich genau beobachtete, wenn ich von einem Treffen zurückkam. Da war doch wohl ein wenig Eifersucht aufgekommen und es war mir peinlich. Doch wir sprachen darüber und die Sache war erledigt.
Als mein Freund unverhofft starb, war es mein Zweitfreund, der mich auffing und mir über die größte Trauer hinweghalf. Wenn ich daran denke, kommen mir heute, nach über sieben Jahren, immer noch die Tränen. Er, der eigentlich eifersüchtig sein sollte, weil nicht er die Hauptperson in meinem Leben war, gab mir Halt.
Nach dem Tod meines Freundes trafen wir uns noch ein einziges Mal. Die zwei Tage, die wir miteinander verbrachten, waren wunderschön. Die Sonne strahlte mit uns um die Wette. Wir lachten, dass uns die Bäuche schmerzten, weinten zusammen über den Verlust, den wir erlitten hatten. Wahrscheinlich wussten wir instinktiv, dass wir uns zum letzten Mal trafen. Wir gingen auseinander, mit Liebe im Herzen.
Ein paar Wochen später traf ich einen anderen Mann. Ich hätte gern so weiter gemacht, wie mit meinem verstorbenen Freund. Doch er konnte sich nicht vorstellen, eine so offene Beziehung zu führen. Daher verzichtete ich seinetwegen, was mir sehr schwerfiel. Doch wie es so oft in der Liebe ist, aus Liebe tut der Mensch vieles, was er sonst nicht tun würde.
Wir gingen im Guten auseinander. Trotzdem blieben wir in Kontakt, als gute Freunde, die sich einmal liebten und die Dreierbeziehung genossen. Dass es nur eine Liaison bleiben sollte, war wohl vorbestimmt. Wer weiß, von wem. Die Zeit wird unvergessen bleiben. Auch heute noch schwelgen wir manchmal noch in Erinnerung an die gemeinsame Zeit, die wir genossen haben.
Ob noch Liebe da ist, wer weiß. Das kann ich nicht sagen. Aber in einem sind wir uns einig: Es wird nie wieder so eine Zeit kommen, wie wir sie gemeinsam hatten. Manchmal denke ich mir, eine schöne Liaison ist besser als eine unzufriedene Liebe. Auch wenn erstere ein Ende hatte, vergessen ist sie nicht. Wie kann Schönes vergessen werden? Das Schöne im Leben lässt einem die Unbill des Lebens vergessen und lässt einen hoffen, es gibt nicht nur dunkle Seiten, sondern auch helle, auf denen die Sonne scheint.
Wir wissen, wir sind trotzdem noch füreinander da, wenn auch auf Entfernung und ohne körperlichen Kontakt. Ich kann heute sagen: Er ist ein guter und wundervoller Freund, den ich nicht mehr missen mag.
© Milly B. / 11.07.2021