Bereits als ich 1975 eingeschult wurde, fiel er mir auf, ein wenig propper, eigentlich schon zu dick für einen Siebenjährigen, blond und auf der Nase trug er eine Brille. Die nächsten 10 Jahre sollten wir dieselbe Schule besuchen, er in der A-, ich in der B-Klasse. A, die Artigen, B, die Bösen, sagten wir immer. So war es in Wirklichkeit auch. Unser Haufen entwickelte sich zur schlimmsten Bande der ganzen Schule. Wir waren der Schreck für jeden Pauker und nicht nur einer aus dem Lehrerschaft verließ genervt und am Ende seiner Kräfte den Unterrichtsraum, um sich abzureagieren. Als wir 1985 in die weite Welt entlassen wurden, atmete das gesamte Lehrerkollegium auf.
Im Laufe der Jahre hatten Alex und ich mehr oder weniger miteinander zu tun. Immerhin waren wir uns spinnefeind. Niemand wollte mit dem anderen etwas zu tun haben. Warum das so war, das kann ich heute nach so vielen Jahren nicht mehr sagen. Es ist zu lange her, um sich an alles zu erinnern. Nur gezwungenermaßen mussten wir einige Fächer zusammen absolvieren, wie ab der achten Klasse Englisch und nach Mädchen und Jungen getrennt, den Sportunterricht.
Alex war der Sohn unseres örtlichen Zahnarztes. Besonders beliebt war er in der Schule nicht, doch er ordnete sich ein und war eher eine Randperson. Auch ein wenig ruhig war er, genauso wie ich. Er beobachtete das Ganze lieber aus sicherer Entfernung, als sich ein- oder mitzumischen. Doch er hatte gute Zensuren, nur das zählte für ihn und seine Eltern. Manche würden Streber dazu sagen. Doch er wollte die Schule mit besten Zensuren abschließen. Davon ließ er sich von niemandem abbringen.
Als wir im Pubertätsalter waren und begannen, uns für das andere Geschlecht zu interessieren, ging dies nicht an uns vorbei. Für Alex war ein Mädchen sehr interessant, das war ich. Er war hinter mir her wie der Teufel hinter der Seele. Anfangs fand ich das ganz lustig und ging auf sein Werben ein. Nicht nur einmal besuchte ich ihn in der Wohnung seiner Eltern, die direkt über der Zahnarztpraxis im Dorf lag.
Dass wir dort nicht ganz brav waren, das kann sich bestimmt jeder vorstellen. Wir machten erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Allerdings war ich noch nicht so weit, den letzten Schritt zu gehen. So widerstand ich dem Werben. Irgendwann hatte ich genug davon und wies Alex ab, der darüber sehr traurig war. Trotzdem warb er immer wieder um mich, aber ich ließ mich nicht mehr darauf ein.
Als wir die Schule verließen, trennten sich unsere Wege endgültig.
Viele Jahre später, das Zeitalter des Internets war längst angebrochen, trieb ich mich auf einer Seite namens „Wer-kennt-wen“ herum. Dort fand ich eine ehemalige Schülerin aus der A, mit der ich ins Gespräch kam. Sie fragte mich, ob ich denn auch zum 25-jährigen Klassentreffen käme, das bald stattfinden sollte. Ich wusste von nichts und sie kümmerte sich drum, dass ich Kontakt zu den Organisatoren bekam.
Da ich eine neugierige Person bin, schaute ich auf ihrem Profil, wen sie so alles in ihrer Freundesliste hatte. Da sah ich plötzlich den Namen Alexander. Irgendwie kam der Typ mir bekannt vor und ich schaute ein wenig genauer. Endlich funkte es bei mir: Es war meine Jugendliebe Alex.
Natürlich schrieb ich ihn an. Alex war sehr erfreut, mit mir in Kontakt zu kommen. Er wusste noch genau, wer ich war. Wir begannen in Erinnerungen zu schwelgen und lachten über so manchen Kinderstreich. Auch erzählten wir uns gegenseitig, was wir im Laufe der Jahre erlebt hatten. Alex war inzwischen, genau wie ich, verheiratet und lebte mit seiner Familie und seiner Mutter am anderen Ende Thüringens in der schönen Stadt Gotha.
In einer seiner Mails fragte er mich, ob ich ihm denn noch böse wäre, weil er mich während unserer letzten Schuljahre ein wenig bedrängt hatte und ich seine Freundin werden sollte. Natürlich war ich das längst nicht mehr. Wir waren heute erwachsene Leute und keine nachtragenden Teenies mehr.
Als es um das nächste Klassentreffen ging, meinte er, er würde auch anwesend sein, worüber ich mich sehr freute. Immerhin hatten wir uns seit 1985 nicht gesehen – 25 Jahre, fast ein halbes Menschenleben. Doch leider musste Alex im letzten Moment absagen, da seine Mutter schwer erkrankt war und er sich um sie kümmern musste.
Die nächsten fünf Jahre vergingen. Es war 2015, das 30. Jahr nach meiner Schulentlassung. Wieder stand ein Jahrgangstreffen an, an dem ich unbedingt teilnehmen wollte. Inzwischen war ich das dritte Mal verheiratet und konnte mich nach einer schlimmen Erfahrung endlich wieder glücklich fühlen.
Freudig erwartete ich den Termin, in der Hoffnung, dass diesmal auch Alex anwesend sein würde. Meine Stimmung war gut, genau wie die der anderen. So wie beim letzten Mal trafen sich wieder beide Klassen. Immerhin waren wir jetzt viele Jahre älter und reifer. Die ewigen Streitereien aus der Schulzeit hatten wir längst beigelegt.
Je einer aus der A und der B hatte sich bereit erklärt, eine kleine Rede zu halten. Es wurde darüber viel gelacht, aber auch traurige Begebenheiten wurden angesprochen. Eine davon versetzte mich in eine Art Schockzustand. Alex war verstorben. Dies war die schlimmste Nachricht, die ich an diesem Tag erfahren musste. Alex, meine Jugendliebe, gab es nicht mehr. Einfach von uns gegangen, ohne Abschied. Ich kämpfte mit mir, um nicht in Tränen auszubrechen. Was sollten die anderen von mir halten, wenn ich heulte wie ein Schlosshund. Nun wusste ich auch, warum er so plötzlich verschwunden war und meine ganzen Bemühungen, ihn zu finden, umsonst waren.
Ich kann es bis heute noch nicht begreifen, warum meine Jugendliebe so jung unsere Welt verlassen musste. Das Schlimme daran ist, dass wir uns nie wiedergesehen hatten und erst viele Jahre später nur kurz miteinander Kontakt aufnehmen konnten. Unser beider Schicksal wollte es so, dass sich unsere Wege trennten. Doch vergessen ist Alex nicht, nun allerdings für ewig verloren. So ist er halt, der Lauf des Lebens.
© Milly B. / 26.09.2016