In Memorial an Ilse (20.Juli 1920 – 03. Oktober 1990) und Erich (06. Dezember 1913 – 22.Juli 1988)
4 Uhr 30 am 3.10.1990. Diesen Tag werde ich nie vergessen, auch die Uhrzeit nicht. Ein Tag, der wieder einmal mein Leben grundlegend verändert hat. Eigentlich ein Tag wie jeder andere, wenn man zurück denkt, aber auch wieder nicht.
Warum wohl, wird sich jetzt der Leser fragen.
Davon handelt meine Geschichte. Aber fangen wir einfach ganz am Anfang an.
Wenn die Kraft zu Ende geht, ist Erlösung eine Gnade – wenn nur immer alles so einfach wäre – so ist der Anfang und das Ende.
Es war einmal eine junge Frau. Ihr Name war Ilse. Ilse war eine große und stämmige Frau. Sie stammte aus einer armen Arbeiterfamilie, die im Altenburger Land ansässig war. Ihr Vater war ein ehrbarer, einfacher Mann, der all seinen Kindern beibrachte, seinen Nächsten zu lieben und zu ehren. Dabei war er gar kein religiöser Mann. Im Gegenteil.
Ilse lernte im zarten Alter von siebzehn Jahren einen jungen Mann kennen. Der Oskar, so hieß der Bursche, war ein Bauernsohn aus einer nicht ganz armen Familie und nur wenige Jahre älter als sie selbst. Oskar liebte Ilse und stellte ihr nach bis sie ihm ihr Jawort gab. Weihnachten 1938, Ilse war inzwischen achtzehn Jahre alt, war die Vermählung der Beiden. Es musste schnell gehen, denn Ilse und Oskar hatten sich schon verbotener Weise der Fleischeslust hingegeben und die Folgen dessen waren schon sehr sichtbar. Nur zwei Wochen nach der Hochzeit – am 03. Januar 1939 - hielten die beiden ein schreiendes, kleines Bündel in ihren Armen. Sie hatten es Irene getauft. Ilse war glücklich, nun ein kleines Mädchen zu haben. Aber Oskar, der stolze Bauernsohn ganz und gar nicht. Hasserfüllt schaute er das Kind an, das kleine rosige Wesen, das noch so viel Schutz brauchte und Mutterliebe. Er spie aus und verfluchte sein eigen Fleisch und Blut. Sie war ja nur ein Mädchen, eines, das Geld kosten würde und viel Aussteuer, die er bezahlen musste, wenn sie einmal heiraten würde. Ein Stammhalter, ja, das wäre schon viel besser. Ein Stammhalter musste her und kein Mädchen! Ein Junge, der einmal sein Hab und Gut erben würde, wenn er selbst einmal nicht mehr am Leben sein würde. Ilse war erschrocken über Oskars Ausbruch. Das erste Mal hatte sie Angst vor ihm.
Elf Wochen später verstarb Irene. Die Zeiten waren schlecht, ein fürchterlicher Krieg wütete damals in ganz Europa. Das Mädchen war krank. Ilse war todtraurig als sie ihr geliebtes Kind tot in der Wiege fand. Dass sie kurze Zeit später schon wieder ein Kind unter dem Herzen tragen würde, wusste sie nicht. Aber so war es. Oskar war nach einem Kurzurlaub längst wieder zum Fronteinsatz als Ilse es bemerkte. Die Freude um das neue Kind überwog, aber sie vergaß ihr kleines Mädchen nicht, an dem sie nur so kurze Zeit Freude hatte.
Fast auf den Tag genau ein Jahr später nach Irenes Geburt. Ilse lag in den Wehen. Viele Stunden quälte sie sich, um das Kind auf die Welt zu bringen. Dann endlich war es so weit. Das Kind, das am 02. Januar 1940 geboren wurde, war mein Vater. Die junge, noch nicht mal zwanzigjährige Frau war glücklich, ihrem Mann endlich den ersehnten Stammhalter geboren zu haben. Manfred, so nannte sie den Knaben, wurde ihr ein und alles, aber leider auch das letzte Kind, das sie lebend zur Welt brachte. Oskar sah seinen Sohn nur selten, im Kriegseinsatz war es damals leider nicht möglich, oft auf Heimaturlaub zu fahren. Dann kam der Befehl zum Ausrücken nach Russland. Ilse war traurig, ihren Mann so weit weg zu wissen. Ihr kleiner Sohn Manfred war ihr einziger Halt und ihre Stütze, in dieser schweren Zeit nicht an der Last der Sorgen zusammenzubrechen. Der Krieg zog sich in die Länge. Dann kam der harte Winter von 1943 auf 1944. Die Deutschen waren in Stalingrad in arger Bedrängnis. Für viele gab es kein Entrinnen. Auch für Oskar nicht. Er blieb verschollen. Für immer.
Für Ilse wurde es hart, sehr hart, war sie doch allein auf sich gestellt mit einem kleinen Kind. Noch schlimmer war es, sich bei ihrer Schwiegermutter – einer alten Bäuerin mit einer sehr konservativen Einstellung - zu behaupten. Auf der jungen Ilse alleine lag die ganze Last, nach Oskars Ableben den Hof, für den sie seinem Verschwinden ganz allein zuständig war und den sie erben würde, zu führen und aufrecht zu erhalten. Die Besatzungsmacht nach Ende des Krieges machte das Leben nicht leichter, im Gegenteil. Oft kamen Soldaten auf den Hof und holten Vieh ab, um es zu schlachten – sogar wenn es tragend und der Nachwuchs bitter nötig war. Genau so oft musste die Familie vor fast leeren Tellern sitzen. Oft gab es nur eine dünne Suppe, die kaum satt machte. Und immer noch blieb die Verantwortung alleine bei Ilse.
Zum Glück war ihr Manfred ein pflegeleichtes Kind. Als er 1946 in die Schule kam, lernte er schnell und eifrig. Er war ein guter Schüler, der wusste, was er wollte. Er ging seinen Weg zielstrebig.
Aber seine Mutter war einsam, einsam im Herzen und in der Liebe. Noch immer sehnte sie sich nach ihrem gefallenen Oskar. Kein Mann konnte bisher ihr Herz erweichen und für die Liebe öffnen.
Im selben Jahr als Manfred eingeschult wurde, kam im Dorf ein junger Mann an. An Tuberkulose erkrankt, halb verhungert und ausgemergelt, gerade aus russischer Gefangenschaft entlassen. Erich nannte er sich. Ilse gefiel ihm und er machte ihr den Hof – auch wenn er nichts weiter besaß als das, was er am Leibe trug. Damals war es noch wichtig, viel Materielles zu besitzen – vor allem für die, die mehr besaßen als andere.
Lange Zeit brauchte Ilse, bis sie Vertrauen fasste und Erich in ihr Herz ließ. Doch wie erging es Manfred? Er sah in Erich immer mehr einen Vater, seinen eigenen hatte er nie richtig kennengelernt, dazu war er noch zu jung, um sich richtig an diesen erinnern zu können. Die männliche Person in seinem noch kurzen Leben tat ihm gut. Die drei wuchsen zusammen, wurden eine kleine Familie.
Erich drängte nie, aber er wünschte es sich sehr, dass Ilse auch vor dem Gesetz seine Frau wurde. Ilse wollte das auch. Sie wollte seine Frau werden, aber da hing noch die vergessen geglaubte Vergangenheit an ihr: Oskar, der Verschollene. Auch wenn er nie zurückgekehrt war, sicher war es nicht, dass er wirklich nicht mehr unter den Lebenden weilte. Es half nichts, es ging kein Weg daran vorbei. Ilse musste Oskar für tot erklären lassen, um Erich heiraten zu können. Denn vor dem Gesetz war sie immer noch eine verheiratete Frau. So geschah es auch. Kurz vor Weihnachten 1954 gaben sich Ilse und Erich das Jawort.
Das Glück der Beiden hielt, sehr lange, in guten wie in schlechten Zeiten, wie der Treueschwur sagt. Auch als Manfred eine Frau fand, diese zu ihm zog und ihm zwei Kinder gebar.
Erich war ein guter Opa, der seine Enkel über alles liebte. Sie liebten ihn genau so innig. Ilse dagegen war eine strenge Oma, die sich um ihre Enkelkinder mit derselben Strenge wie um ihr eigenes Kind kümmerte. Das war oft ein Dorn im Auge der Schwiegertochter, die dies nicht guthieß. Es gab deshalb oft Streit, die Parteien sprachen lange Zeit kein Wort miteinander, bis eine Art Waffenstillstand beschlossen wurde. Richtiger Frieden herrschte allerdings nie wieder.
Eines Tages, Erich war erst Uropa geworden, wurde er sehr krank. Seine Enkelin, die ihn sehr liebte und gerade neunzehn Jahre alt, war sehr traurig darüber. So oft sie konnte saß sie mit ihrem Säugling an Erichs Krankenbett und unterhielt ihn. Dass ihm nicht mehr geholfen werden konnte, wusste bis dahin noch niemand. Im Juli 1988 schloss er für immer die Augen und ließ eine todtraurige Enkelin zurück, die lange Zeit brauchte, bis sie das Erlebnis verarbeiten konnte. Auch jetzt, wo sie diesen Text schreibt, kommen Erinnerungen an diese Zeit wieder hoch, die sie traurig werden lassen und ihr die Tränen in die Augen treiben. Doch in ihrem Herzen lebt er weiter.
Ilse, die ihren geliebten Mann bis zum Schluss pflegte, blieb zurück. Sie fühlte sich einsam, sogar wenn ihre Familie, ihr Sohn und die Enkelkinder um sie waren. Ohne ihren Erich fand sie das Leben nicht mehr lebenswert. Immer öfter erkrankte sie. Sie erlebte die Wende noch, die im Land vollzogen wurde, verstand allerdings nicht mehr, warum das so geschah. War sie doch ein geregeltes, vorgeschriebenes Leben gewohnt, keines so unstetes und ungewisses, wie das, das jetzt auf viele zukam. Zum Glück musste sie nicht mehr arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, eine Sorge weniger für sie.
Ilses Gesundheitszustand ließ zu wünschen übrig, verschlechterte sich im Laufe der Zeit immer mehr. Nichts half, im Gegenteil. Der Arzt sah eines Tages keine andere Möglichkeit mehr als sie in ein Krankenhaus einzuliefern. Dass sie allerdings nicht körperlich krank war, bemerkte er nicht. Ilse wollte nicht mehr, sie wollte zu ihrem Erich, der im Himmel auf sie wartete.
Am 3.Oktober 1990 war es soweit, nun war es an Ilse, die Augen für immer zu schließen. Um 4 Uhr 30 morgens ging sie zu ihrem Erich.
Natürlicher Tod um 4 Uhr 30 am 3. Oktober 1990, stand auf dem Totenschein, der vom Standesamt kam.
Warum gibt es keinen Eintrag: Tod durch gebrochenes Herz, frage ich mich manchmal. Aber das Leben geht weiter für diejenigen, die zurückgelassen werden – so schwer es anfangs auch sein mag.
© Milly B. / 01.09.2011