Immer noch sind wir in der Türkei. Wieviele Tage schon? Ich weiß es nicht. Irgendwie kam es mir vor, als würde ich zeitlos leben. Das Leben hier war so frei von Stress, dass ich es kaum glauben konnte. Während meiner spätereren längeren Aufenthalte in der Türkei erlebte ich dies immer wieder.
Eines Tages beschlossen wir, ein wenig die Umgebung zu erkunden. Dazu mieteten wir uns ein Auto – wieder einen Kartal*. Baba schlug als Erkundungsort Maçka** vor.
Diesmal war allerdings der Onkel nicht mit von der Partie, sondern Baba, Schwager Senol und Schwägerin Günay, letztere beiden die jüngsten Geschwister meines Freundes. Die beiden hatte ich schnell in mein Herz geschlossen. Ihre aufgeschlossene Art mir gegenüber machte es mir leicht, ihnen gutgesinnt zu sein. Wir verstanden uns, auch wenn wir sprachliche Barrieren hatten.
Unser Weg führte uns die Küstenstraße entlang in Richtung Trabzon***, der Provinzhauptstadt. Dort bogen wir in Richtung Maçka ab, einer kleinen Kreisstadt, die etwa 30 km ins Landesinnere hinein lag. Die Stadt ist nicht sehr groß. Sie beherbergt nur etwa 5800 Einwohner.
Es ging immer bergauf, bergab dorthin. Enge Straßen, oft begrenzt von hohen, fast unheimlich wirkenden Bergen. Zum Glück hatten wir gutes Wetter, die Sicht war gut, die Straße allerdings weniger.
Die Gegend veränderte sich immer mehr. Während Sürmene**** und Trabzon sehr viel Grün und bewaldete Berge hat, bestanden die Berge dort fast nur aus kahlen Felsen. Ein großer Unterschied zu den anderen beiden Städten. Dafür gab es dort bei viel Regen weniger Erdrutsche als um Trabzon und Sürmene.
Maçka wurde gleich nach unserer Ankunft von mir bestaunt. Ich musste alles sehen. Meine Neugier, die mir noch fremde Kultur zu erkunden, war einfach zu groß. Lächelnd ließ mich die Familie gewähren und folgte mir auf dem Fuß. Baba erklärte Einiges, was mein Freund für mich übersetzte. Obwohl es eigentlich nicht besonders viel zu sehen gab, war ich beeindruckt vom Flair dieser Stadt, dem Fremdländischen, Unbekannten, den Menschen.
Erschöpft und hungrig von der Erkundungstour suchten wir uns später ein kleines Restaurant, wo wir speisen konnten. Schnell fanden wir auch eines, welches uns gefiel. Dort gab es wieder diesen obligatorischen schwarzen Tee aus kleinen Gläsern, stark und süß. Danach wurde gespeist bis zum Umfallen. Es wurden Unmengen von Essen aufgetischt, dass ich große Augen bekam und schon befürchtete, wir schaffen nicht alles. Aber weitgefehlt. Unsere Teller leerten sich im Handumdrehen, die Speisen füllten unsere Mägen.
Als die Rechnung kam, bekam ich erneut große Augen. Umgerechnet nur knapp zehn Mark mussten wir bezahlen, Getränke inklusive. Im Kopf rechnete ich aus, was wir in Deutschland bezahlt hätten. Kein Vergleich zu dem, was wir hier löhnen mussten.
Nach dem pompösen Essen brauchten wir unbedingt einen Verdauungsspaziergang. So gingen wir noch ein wenig durch die Stadt, wo wir bald neben einer Moschee eine alte Frau trafen, die Baba anscheinend kannte. Es folgte ein für mich unentwirrbarer Wortschwall, dem ich weder folgen noch ihn übersetzen konnte. So stand ich nur wie als zierendes Beiwerk daneben und schaute mich um.
Zum ersten Mal während meines Urlaubes sah ich eine junge Frau ohne Kopftuch. Sehr selten in dieser konservativ eingestellten Gegend. Für uns Europäer ist das ganz normal, dass Frauen ohne Kopftuch nach draußen gehen. Aber erinnern wir uns mal etwas zurück, dann sehen wir, dass auch hier vor gar nicht allzu langer Zeit es auch Gang und Gebe war, dass Frauen nicht ohne Kopfbedeckung nach draußen gingen, weil es sich nicht geziemte, ohne zu gehen.
Während sich die Anderen angeregt unterhielten und ich meine Augen durch die Gegend schweifen ließ, bemerkten wir nicht, wie die Zeit verging und es Zeit zum Gebet war. Für mich unerwartet, begann der Imam vorzubeten. Seine Stimme erscholl aus den Lautsprechern, die an der Moschee angebracht wurden und rief die Gläubigen zum Gebet. Ich erschrak mich und machte deshalb fast einen Hüpfer, worauf ich die Lacher auf meiner Seite hatte.
Jetzt erst bemerkte die alte Frau, dass ich gar nicht so richtig aussah wie eine Türkin. Sie schaute mich von oben bis unten an, plapperte für mich unverständliche Dinge, schüttelte nur mit dem Kopf und zeigte laut vor sich hin grummelnd auf meine Hosenbeine. Erst als Baba ihr erklärte, dass ich Deutsche und kein Moslemin bin, verstand sie mein anderes Aussehen. Doch schien es in ihrem Kopf zu arbeiten, wie wohl ein moslemischer Mann zu einer nichtmoslemischen Frau kam. Sie hatte wohl, wie ich annahm, ihre vertraute Umgebung noch nie verlassen, geschweige denn war sie im Ausland, oder kannte andere Religionen. Für mich eigentlich verständlich.
Es wurde langsam Zeit, uns auf den Rückweg zu machen. Immerhin hatten wir noch etwa 80 km Fahrt vor uns. Für uns in Deutschland ist das keine Entfernung, aber in der Türkei im Jahr 1995 schon. Die Straßenverhältnisse machen es auch jetzt im 21. Jahrhundert manchmal nicht einfach, solche Wegstrecken schnell zu überwinden. Da braucht man manchmal schon eine Stunde um eine Strecke von 30 Kilometern zurückzulegen.
Diesmal fuhr ich zurück. Das erste Mal in der Türkei Auto fahren. Ich war aufgeregt, doch ließ ich es mir nicht anmerken. Bis dahin war ich nur innerhalb Deutschlands Auto gefahren und das auch nicht sehr weite Strecken.
Den Weg bis Trabzon überwanden wir gut. Ich kam zurecht mit den etwas gewöhnungsbedürftigen Fahrgepflogenheiten.
Jeder fährt wie er will, aber nicht wie er soll, sage ich immer dazu. Es gibt zwar Verkehrsregeln. Aber wer hält sich schon an Verkehrsregeln? Niemand.
Ich bog in Trabzon wieder in östliche Richtung ab. Die Straße war um diese Tageszeit noch nicht sehr belebt, das würde erst am späteren Abend losgehen, dass kaum noch ein Durchkommen war. Am Rande sah ich ein Polizeiauto neben dem ein Polizist stand, der mit der Kelle winkte, ich solle halten.
Natürlich tat ich das. Das macht man ja so, man ist ja ein vorbildlicher Verkehrsteilnehmer. Der Polizist kam ums Auto, ich kurbelte die Scheibe nach unten. Mich empfing ein Wortschwall, den ich nicht entwirren konnte.
„Was will er von mir”, fragte ich in Richtung meines Freundes, der auf dem Beifahrersitz saß.
„Er will deinen Führerschein sehen”, antwortete er und fragte gleichzeitig, wo dieser sei. Ich erwiderte, der wäre in meiner Geldbörse, worauf er begann in meiner Handtasche nach besagter Geldbörse zu kramen.
Der Polizist sah dem Geschehen interessiert zu. Als er erkannte, dass wir uns auf Deutsch unterhalten, fragte er, woher wir seien.
„Aus Deutschland”, sagte mein Freund.
„Oh, na dann. Ihr habt in Deutschland ja alle einen Führerschein. Da muss ich nicht kontrollieren. Ihr könnt weiterfahren”, sagte der Polizist auf einmal, tippte zum Gruß an seine Mütze und ging zurück zu seinem Auto.
„Was war das denn?”, fragte ich.
Mein Freund grinste und übersetzte mir, was der Polizist gesagt hatte. Währenddessen fuhr ich schon an. Während ich mich wieder in den laufenden Verkehr einfädelte, kam von hinten von Baba, was denn losgewesen sei.
Wieder begann mein Freund zu erklären, was war. Baba meinte dann nur, ich würde so gut fahren, dass er sich ganz sicher fühle und auch ohne Bauchgrimmen schlafen konnte. Ich selber hatte gar nicht bemerkt, dass er auf der Rückbank geschlafen hatte. Trotzdem war ich stolz wie Oskar, ein solches Lob bekommen zu haben.
Auf dem Rückweg hatten wir noch einen kleinen Zwischenfall: Schwägerin Günay wurde es schlecht. Sie war das Autofahren nicht gewohnt. Ich musste schnell anhalten, sonst hätte sie ihr Essen im Auto verteilt. Zum Glück war nochmal alles gut gegangen.
Der restliche Nachhauseweg verlief ohne weitere Zwischenfälle. Allerdings fuhr ich nicht den Berg bis zum Haus der Eltern hinauf, das tat dann mein Freund. Um selber bis dort hinauf zu fahren, brauchte ich noch ein wenig. Erst zu unserem nächsten Besuch 1998 wagte ich es, bis kurz hinter das Dorf zu fahren. Jahre später machte mir das nichts mehr aus, ich fuhr wie eine Eingeborene hinauf, als hätte ich nie etwas anderes getan.
Worterklärungen
* – türkische Automarke, ähnlich einem älteren Modell von Dacia
** – Stadt im Distrikt Trabzon am Schwarzen Meer, man spricht Matchka
*** – Provinzhauptstadt des Distrikts Trabzon, östlichste Hafenstadt am Schwarzen Meer, etwa 235000 Einwohner
****– Kleinstadt circa 35 km östlich von Trabzon
© Milly B. / 13.12.2012