Ich denke oft zurück an die Zeit, als meine geliebte Großmutter, genannt Oma Dora noch lebte. Bei ihr verbrachte ich von frühsten Kindesbeinen an fast jede freie Minute. Immer im Schlepptau meine beiden Cousins Henrik und Rene und viel später dann meine Lieblingscousine Sandy.
Ich weiß noch genau, als wäre es erst gestern gewesen, wie wir zu dritt den Kindergarten im Dorf, der nur über den Sommer während der Erntezeit offen hatte, unsicher machten. Meine beiden Cousins hatten einmal die Windpocken und durften nicht hingehen. Und ich natürlich auch nicht. Wie sehr war ich ihnen böse. Oder kurz bevor Rene in die Schule kam, er eine schlimme Hirnhautentzündung bekam und wir um sein Leben bangen mussten.
Das waren noch Zeiten, als wir, nachdem Sandy geboren wurde und sie alt genug war, zu viert durch die Wiesen rund um das Dorf, in dem Oma Dora wohnte, strichen. Sandy im Schlepptau, auf einen kleinen Bollerwagen gesetzt, der mit Omas Sofakissen gepolstert war. Mit ihren kleinen Beinchen konnte sie noch nicht so weit laufen, aber sie wollte immer überall dabei sein. Das nahmen wir gerne in Kauf, wir liebten sie ja. Wir wurden eine verschworene Bande, die oft Streiche spielte, über die unser Opa Kurt nicht lachen konnte.
Opa Kurt war ein ernster Mann, sehr viel älter als Oma Dora. Die sagte immer alter Griesgram zu ihm, wenn wir mal wieder einen Spaß mit Opa gemacht hatten, er sich heillos drüber aufregte und uns drohte, uns den Hintern zu versohlen. Wir lachten und rissen aus, wohl wissend, Opa Kurt krümmt uns kein Haar. Oder er aus dem Küchenfenster schaute und lauthals schimpfte, weil wir uns über seine Himbeeren her machten. Opa und seine Himbeeren, die gehörten zusammen wie Milchreis mit Zucker und Zimt, Hefeklöße mit Heidelbeeren oder Omas geliebten Plattenhopsern (Kartoffelpuffer) mit Apfelmus.
Aber einmal musste Opa Kurt lachen, als ich mit Rene ein Telefon aus zwei leeren Blechbüchsen und einer Rolle Bindfaden bastelte und den Faden dazu über den ganzen Hof spannte zu dem Haus, wo Rene wohnte. Und dann saßen wir jeder auf der Treppe und versuchten uns zu verständigen. Wir schrieen in die Blechbüchsen, dass dem Opa die Ohren wackelten. Nur verstanden haben wir nicht, was der andere sagte.
Oder als ich voll Karacho mit Omas Fahrrad auf die Feuerwehrwiese fuhr und dort nicht zum Stehen kam. In meiner Angst, die ich hatte, zog ich, anstatt den Rücktritt als Bremse zu benutzen, die Vorderbremse gezogen, sauste im hohen Bogen über den Lenker und landete im Dreck.
Nachbars Ponys hatten es mir auch angetan. Immer wenn sie auf der Weide waren, war ich auch dort anzutreffen. Nur einmal hatte ich Pech. Eines der lieben Tierchen erwischte mich und biss mich. Blaue Flecke zierten danach wochenlang meinen Brustkorb.
Die Kindheit dort im Dorf war fröhlich, wir wurden geliebt. Oma Dora gab uns ihre ganze Liebe. Sie hatte viel Nerven für uns, auch wenn wir mal nicht brav waren. Wie einmal, als wir auf der Wiese neben dem Bach spielten und uns etwas ins Wasser fiel, was ich unbedingt wieder haben wollte. Ich rutschte auf den glatten Steinen aus und fiel der Länge nach in die Fluten. Henrik sprang hinterher und zog mich wieder heraus. Im Gegensatz zu ihm, den knapp zwei Jahre jüngeren konnte ich immer noch nicht schwimmen. Der Bach war zwar nicht tief, aber der Schreck war trotzdem groß. Welch ein Gelächter, als wir nass und wie begossene Pudel nach Hause kamen. Aber Oma Dora schimpfte nicht, sondern umhegte uns sofort wie eine emsige Biene. Nachdem wir in die heiße Wanne gesteckt wurden, bekamen wir frische Kleidung und die Sache war vergessen. Für Oma Dora jedenfalls. Von Rene und Opa aber wurde es nicht vergessen. Sie hänselten uns noch lange deswegen.
Dann kam die Zeit, in der ich als Älteste, den ersten festen Freund hatte. Wir hielten immer noch zusammen, trafen uns oft, auch wenn wir durch Schule und Lehre nicht viel Zeit hatten. Wir waren ja ein Team, das zusammen halten musste.
Oma Dora schaute misstrauisch, als ich ihr im Sommer 1986 verkündete, mein Freund und ich würden heiraten, damals war ich gerade achtzehn geworden. „Es ist zu früh Kleine, warte noch damit“, sagte sie traurig zu mir. Dabei sollte sich eine Oma doch freuen, wenn ihre Enkelin heiratet. Sie aber freute sich nicht. Warum? Das wusste ich damals nicht, oder ich wollte es nicht verstehen. Auch meine Cousins sagten zu mir: „Warte noch!“ Aber ich wollte nicht hören, ich wollte unbedingt diesen Mann heiraten.
Unsere Wege gingen langsam auseinander. Nur Sandy blieb zurück, sie war ja auch zehn Jahre jünger als ich. Oft lachen wir auch heute noch darüber, wie ich mit ihr an meiner Hand, als sie gerade mal laufen konnte, bei Oma Dora aus dem Wohnzimmer in Küche gehen wollte, dann über die Türschwelle stolperte, mit ihr der Länge nach hinfiel, worauf Sandy schrie wie am Spieß und nicht zu beruhigen war. Erst Oma konnte sie beruhigen, während ich wie ein Häufchen Elend in der Sofaecke saß und genau so jammerte wie Sandy.
An die Badetage waren immer ganz besondere Tage. Da wurde im Winter eine große Zinkwanne mitten in der Küche aufgestellt. Alle Kinder mussten da nacheinander hinein und wurden von Oma abgeschrubbt. Das war ein Gaudi. Im Sommer wurde das Ganze in die Waschküche verlegt, wo ein großer kohlebeheizter Kessel stand, in dem heißes Wasser gemacht wurde.
Inzwischen sind seit diesen frohen Kindertagen dreißig Jahre vergangen und ich erinnere mich noch daran, als wäre es erst gestern gewesen. Wie sehr vermisse ich die Zeit, wie sehr vermisse ich den Zusammenhalt. Wir sind älter geworden, teilweise selbst Eltern, wie Sandy, Henrik und ich.
Nur Rene ist noch kinderlos, als einziger von uns vieren. Nach einer herben Enttäuschung hatte er nie wieder eine Freundin. Auch wenn er es nie zugibt, er ist nicht glücklich damit. Er muss mir das nicht sagen, ich spüre das. So wie früher in unserer Kindheit.
Sandy ist noch eine junge Mama und stolz auf ihre Kleine. Henrik hat eine erwachsene Tochter. Nachdem er sich von seiner langjährigen Lebensgefährtin getrennt hat, hat er nun ein Mädchen, gerade mal ein Jahr älter als seine Tochter. Was geht nur in ihm vor, ich verstehe ihn nicht, warum er das tut. Kam die Langeweile in der Beziehung auf? Liebten sie sich nicht mehr? Ich weiß es nicht. Antworten werde ich darauf auch nicht bekommen, denn er redet nicht darüber.
Aber: Wir verstehen uns immer noch, auch nach all den vielen Jahren, ohne dass wir etwas sagen müssen. Das unsichtbare Band besteht noch. Es hält fest. Ich hoffe für immer.
© Milly B. / Juni 2010