Ein kleines Vorwort zu dieser Geschichte
Was soll ich hier nur dazu genaueres sagen? Es ist so viel, aber auch so wenig, dass ich gar nicht weiß, wie ich richtig beginnen soll.
Eigentlich möchte ich Euch nur erzählen, dass ich diese Episode in die Reihe meiner autobiografischen Geschichten einfügen werde. Es gibt Dinge in meinem Leben, die sehr prägsam für mich waren, so wie die Ereignisse, die diese Geschichte beschreibt. Einiges wird Euch bestimmt schocken, dass ich es mit so direkten und unverblümten Worten dargestellt habe. Es ist starker Tobak, den es da zu verdauen gibt, auch für mich. Doch seht es so: Ich war nie die Person, die besondere Rücksicht auf die Gefühle der Leser beim Schreiben genommen hat. Das werde ich auch nie tun, denn da müsste ich mich verbiegen und ich wäre nicht mehr ich, sondern irgend jemand anderes, den ich nicht darstellen möchte und will. Manchen Leser wird meine Vorgehensweise abschrecken, einige werden vielleicht auch den Hut vor mir ziehen, was mich wiederum sehr zum Erröten bringen würde. Ich für mich empfinde meine Schreiberei, vor allem von autobiografischen Geschichten, als Verarbeitung von Ereignissen. Viele von Euch kennen beinahe alle meiner Geschichten, die hier in diesem Forum zu lesen sind. Mal zart, mal hart, voller Sex, Hingabe, Liebe, Zärtlichkeit, Vertrauen, aber auch Porno wurde dazu bereits gesagt, dann wieder voll Gefühl oder auch zum Lachen oder Gruseln. Das alles bin ich, eine ganz normale Frau, der das Schreiben sehr viel Spaß macht und Euch gerne daran teilhaben lässt, auch wenn es solche Geschichten sind wie diese hier.
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Im Grunde genommen unterschied sich dieser Tag ganz und gar nicht von den anderen Tagen im Jahr. Schule war angesagt, trockene Theorie, wie seit knapp zwei Jahren. Gewollt war dies, denn Carla entschloss sich, nach so vielen Jahren Zwangsruhe einen neuen beruflichen Weg gehen. Neuer Weg ist aber eigentlich ein wenig falsch ausgedrückt, es war eher so wie ein Nägel mit Köpfen machen, ihr Wissen erweitern, neue Erfahrungen sammeln, um in nicht allzuferner Zukunft beruflich neu durchstarten zu können.
Dass sie diesen neuen Weg auch noch mit einem sehr viel älteren Mann ging, das war Zufall, genau wie es Zufall war, dass sie sich kennenlernten. Über drei Jahre war das inzwischen her. Naja, eigentlich kannten sie sich schon sehr viel länger. Genauer gesagt seit dem Jahr 2008. Doch bis zu ihrem persönlichen Kennenlernen teilten sie fast täglich Mails aus, unterhielten sich über Gott und die Welt. Dabei stellten sie einige Gemeinsamkeiten fest. Was Carla am meisten freute, sie hatten ein gemeinsames Hobby, die Schreiberei. Sie hatten eine Leidenschaft, die sie verband, wie ein unsichtbares, aber sehr haltbares Band.
Zugegeben, er war am Anfang nicht darauf aus, eine feste Beziehung einzugehen. Eine sehr lange Ehe lag hinter ihm, die der Tod schied. Carla war ebenfalls nicht gewillt, sich mit ihm einzulassen, denn sie war noch in einer Ehe gebunden.
„Ich bin nicht auf der Suche nach einer Frau“, gestand er in einer seiner ersten Mails. Carla akzeptierte dies, sie selbst suchte auch nichts, nur ein wenig Zerstreuung und Austausch der gemeinsamen Interessen. Mit ihm war sie in dieser Beziehung auf dem richtigen Weg, wie sie nach kurzer Zeit feststellte.
Auch als er plötzlich und unverhofft krank wurde, riss der Kontakt nicht ab. Beinahe täglich telefonierten sie. Noch viel später sprachen sie über diese schwere Zeit, die sie ungewollt noch mehr zusammenschweißte.
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Carla war kein unbeschriebenes Blatt. In ihrem Leben kamen viele Männer vor, mal länger, mal kürzer gingen sie einen gemeinsamen Weg, auch sogenannte One-Night-Stands gab es. Sie bereute nichts, es gehörte zu ihrer Lebensweise und sie genoss es so, wie es kam. Der letzte Mann begleitete sie knapp 17 Jahre. Durch ihn änderte sich vieles. Es ging so lange gut, bis er mit jedem Tag mehr seinen eigenen Weg beschritt. Carla akzeptierte dies, auch wenn es ihr weh tat, ihn jeden Tag mit einer anderen Frau zu sehen, die jetzt an seiner Seite war. Er tat dies wohl, weil sie, Carla, sich in der letzten Zeit stark veränderte und er dies nicht verstehen wollte oder auch nicht konnte. Für ihn musste sie als Frau gehorchen, sich ihm unterordnen. Sie wollte das nicht mehr. Daher machte sie Nägel mit Köpfen, sie wollte die Scheidung. Er stimmte zu und alles ging seinen vorgeschriebenen Weg. Dass sie damit auch ihre Arbeit verlor, das nahm sie gelassen hin. Sie hatte es erwartet. Damit war für sie der Weg in eine neue Zukunft ohne Zwang und Unterordnung frei.
Er, der Neue, brachte Carla dazu, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen. Mit ihm kam das Lachen in ihr Leben zurück, Lachen, das sie so sehr vermisst hatte. Natürlich war nicht jeden Tag eitel Sonnenschein, so wie es in jeder Beziehung normal war. Doch eines war komplett anders: es verging kein Tag, an dem es kein liebes Wort gab, keine zärtliche Zuwendung. Auch wenn es Streit gab, wurde er beigelegt, noch bevor man sich zur Nachtruhe begab. Es wurde darüber geredet und diskutiert. Am Ende war man sich einig, oder auf dem Level, mit dem sich jeder anfreunden konnte. Carla kannte so etwas gar nicht. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit gab es sehr viele Tage, an denen nicht miteinander geredet wurde, an denen sie als Person einfach missachtet, ja sogar einfach übersehen wurde. Und immer war sie es, die den ersten Schritt machte, weil sie es einfach nicht ertragen konnte, so links liegen gelassen zu werden wie ein vergessenes Stück Müll.
Noch eines war vollkommen anders: die sexuelle Beziehung zu dem neuen Lebenspartner. Bisher konnte sich die inzwischen reife Frau nicht vorstellen, neben einem festen Partner noch einen anderen zu haben. Mit ihm war es machbar, ohne Eifersucht und Streit. Allerdings, so war es ausgemacht, durfte nie etwas ohne Wissen des Anderen geschehen. Jeder Seitensprung musste gebeichtet werden, wenn möglich sogar vorher angekündigt. Sie hielt sich immer daran. Auch er durfte, wenn er wollte. Doch er tat es nie, sondern ließ ihr lieber ihr Leben in vollen Zügen genießen. Als er eines Tages für einige Zeit aus Krankheitsgründen nicht zu Hause sein konnte, machte sie ihm den Vorschlag, es doch mal mit einem Kurschatten zu versuchen. Ihr Einverständnis hätte er dazu. Immerhin nahm sie sich ebenfalls das Recht heraus, nebenher eine Beziehung, wenn auch nichts Festes, zu haben.
„Was soll ich mit den ollen vertrockneten Schrumpeln, wenn ich zu Hause eine viel Jüngere haben kann?“, kam es lachend von ihm zurück.
Carla jedoch nutzte die Gelegenheit bereits seit Langem. Sie hatte einen im Auge, dem sie ihre Zuneigung schenkte. Sie streckte ihre Fühler aus und siehe da: er sprang auf sie an, obwohl er verheiratet war und seine Frau sehr liebte.
Anfangs war es nur zärtliche Zuneigung. Im Laufe der Zeit wurde mehr daraus. Aus Zuneigung wurde Liebe. Carla war verwirrt. Liebte sie zwei Männer gleichzeitig? Konnte das denn gut gehen? Ja, es konnte, wie sie feststellte. Sie genoss es sogar, von zwei Männern gleichzeitig geliebt zu werden.
Das Glück zu dritt währte leider nicht lange.
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Der 18.03.2014 war ein Tag wie jeder andere in der Schule. Die Mitschüler nervten, doch Carla ließ sich, so wie so oft, nicht aus der Ruhe bringen. Sie war die älteste Umschülerin in der Klasse. Die anderen, meist zehn und mehr Jahre jünger als sie, hatten zwar ihren Respekt, doch mit ihrer Lebenserfahrung konnten sie nicht mithalten. Als sie ihnen fast am Anfang gestand, erotische Literatur zu schreiben, war für einige nicht ganz koscher. Doch nachdem sie einige Kostproben ihres Könnens freiwillig vorzeigte, war auch dies kein Problem mehr. Im Gegenteil, ihr Ansehen hob sich. Sogar einige der Dozenten lasen ab und an mal, was ihnen heimlich von Carlas Mitschülern zugeschoben wurde.
Am diesem besagten Tag verlief eigentlich alles so wie sonst. Das Thema, das gerade durchgenommen wurde, nervte. Carla konnte sich heute schönere Dinge vorstellen, als im miefigen Klassenraum zu sitzen und dem Dozenten zuzuhören. Sie dachte bereits an den morgigen Tag, an dem ihr Liebster aus der Reha-Klinik nach Hause durfte. Lange genug hatte seine Abwesenheit nach dem letzten Schlaganfall gedauert. Dass dies unbedingt notwendig war, das konnte Carla verstehen. Er würde nicht wie der Alte sein, der er früher war, das war ihr genauso klar. An den Rollstuhl würden sich beide wohl auch erst einmal gewöhnen müssen. Das Ding zu fahren hatten sie in den Fluren der Klinik oft genug üben können. Aus Jux und Tollerei fuhren sie oft Schlangenlinien und lachten über den Unsinn, den sie trieben. Obwohl sie nicht verheiratet waren, benahmen sie sich wie ein altes Ehepaar. Die Vertrautheit zwischen ihnen, trotz hohem Altersunterschied, störte sie in keinster Weise.
Als endlich die Mittagspause da war, freute sie sich, eine Stunde dem Schultrott entkommen zu können. Gemeinsam mit den Mitschülern fiel sie über das Mittagessen im Schulrestaurant her. Es wurde gelacht und geplaudert. Jeder hatte irgendwas zur gegenseitigen Belustigung beizusteuern. So hörte Carla nicht, dass ihr Telefon in ihrer Jackentasche klingelte. Erst nachdem sie in den Pausenhof gehen wollte, stellte sie den verpassten Anruf fest. Erschrocken sah sie, es war die Klinik, in der sich ihr Gefährte gerade in einer Reha befand.
Aufgeregt rief sie sofort zurück. Das, was sie zu hören bekam, erschreckte sie immens.
„Sie müssen herkommen“, erklärte die Ärztin, die den Anruf entgegennahm. „Es ist etwas passiert. Ich erkläre ihnen alles genau, wenn sie hier sind.“ Danach folgten noch ein paar Informationen, die wie ein Orkan in Carlas Hirn herum wirbelten.
Carla bekam vor Entsetzen kaum Luft. Am liebsten hätte sie losgeschrien. Stattdessen rollten Tränen ohne Ende und sie konnte nur noch „Scheiße, Scheiße, Scheiße“ stammeln. Sie schleppte sich die Treppe nach oben. Ihr erster Weg führte zu den Dozenten, die sie sofort beurlaubten. Doch gleich losfahren ließen sie sie nicht. Zu gefährlich könnte sich die Aufregung auf den Straßenverkehr und ihre Fahrweise auslegen. Erst später durfte sie gehen. Sie hatte sich einigermaßen beruhigt. Doch in ihrem Inneren brodelte es, brodelte die Angst, ihren Liebsten zu verlieren.
„Es wird alles gut“, versuchte eine Mitschülerin sie nochmals zu beruhigen. Dass nichts gut werden würde, wusste nur Carla, den anderen sagte sie noch nichts.
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Hilflos stand Carla nach der aufregenden und für sie endlos erscheinenden Autofahrt vor dem Bett in der Intensivstation. Wie benommen, als wäre sie im falschen Film, schaute sie ängstlich auf die ihr wie fremd vorkommende Person, die dort an Unmengen von Kabeln und Schläuchen angeschlossen war. Sollte das ihr Liebster sein? Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht sein!
Eine Ärztin, die sie hineingelassen hatte, versuchte ihr die Vorkommnisse zu erklären. Erreichten die Worte Carla? Noch verstand sie nicht genau, was vorgefallen war. Erst als der Chefarzt zu ihr kam und mit beruhigenden Worten auf sie einsprach, wurde ihr der Stand der Dinge bewusst.
„Und wenn wir die Apparate abschalten?“, fragte sie leise. Sie hatte erkannt, alles in ihrem Leben würde ab sofort ganz anders als geplant verlaufen.
„Es tut mir leid, wir haben keine Patientenverfügung“, erwiderte der Arzt. „Auch wenn wir wollten, wir dürften es nicht.“ Er hielt inne, dann setzte er zu ihrer Beruhigung noch hinten an: „Er hat keine Schmerzen. Wir können trotzdem nur noch abwarten.“
„Wie lange noch?“, ein Zittern lag in ihrer Stimme. Hoffte Carla, eine positive Antwort zu erhalten?
„Ich weiß es nicht“, sagte der Arzt. „Es kann schnell gehen, es kann aber auch noch lange andauern. Doch so wie es derzeit aussieht, kann es sich eventuell sogar nur noch um Stunden handeln. Glauben sie mir, es ist besser so. Auch wenn ihr Mann es überleben würde, nie wieder wäre er der Alte, den sie kennengelernt haben. Nie wieder könnte er selbstständig atmen, er wäre ein schwerster Pflegefall und müsste ständig von einer Maschine beatmet werden.“
Carla konnte nur nicken. Dabei hatte sie sich schon längst darauf eingestellt, einen pflegebedürftigen Mann zurück zu bekommen.
Dann erzählte der Chefarzt noch von den Gesprächen, die er mit Neurologen in Borna und Leipzig geführt hatten und dass sie ihn schon mehrmals zurückholen mussten. Sie wollte es am liebsten gar nicht hören. Doch die Worte drangen ohne Widerstand in ihre Ohren und brannten sich in ihr Hirn, wie ein heißes Brandeisen in das Fell eines teuren Reitpferdes.
„Und dieser Riss in diesem Blutgefäß, da im Hirn? Da ist gar nichts mehr zu machen?“, fragte Carla nochmals.
„Nein, gar nichts. Es ist irreparabel. Der Hirnstamm ist unwiederbringlich zerstört“, antwortete der Arzt. „Es tut mir leid, ihnen nichts anders sagen zu können. Die Neurologen in Borna und Leipzig sind derselben Meinung. Wir sind selbst sehr erstaunt über diese abrupte Wendung. Ihr Mann hatte sich in den letzten Wochen sehr gut erholt und so viele Fortschritte gemacht. Ich sehe ihn immer noch im Rollstuhl vor seiner Zimmertür sitzen und auf sie warten, wenn Besuchszeit war“, erinnerte er sich noch. Dabei lächelte er sie an. „Haben sie noch Fragen?“, wollte er wissen.
Carla schüttelte nur mit dem Kopf. Tränen rannen dabei über ihre Wangen. Die Flut war nicht zu stoppen. Dabei wollte sie gar nicht weinen.
„Darf ich hier bleiben, bis…?“, weiter wagte sie fast nichts zu sagen.
„Natürlich dürfen sie das. Rufen sie, wenn sie etwas brauchen. Als Angehörige ist es für sie gut, ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten“, sprach der Arzt sie an. „Scheuen sie sich nicht, auch mit ihm zu reden, ihn zu streicheln, zu berühren. Ob es ankommt, es versteht oder spürt, das können wir nicht sagen. Aber es wird ihnen helfen, ihm auch.“
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Die Uhr an der Wand tickte Sekunde um Sekunde. Ihr kam es vor, als wäre die Zeit wie angenagelt. Immer wieder schaute Carla auf das Ziffernblatt, doch seit ihrem letzten Blick waren wieder nur wenige Minuten vergangen. Carla wusste nicht, wie lange sie schon hier in diesem Zimmer ausharrte. Neben dem Ticken der Uhr waren noch die Geräusche des Beatmungsgerätes zu hören, manchmal auch das Aufpumpen des Blutdruckgerätes. Wie erstarrt schaute sie auf den den kleinen Bildschirm, der die Vitalwerte anzeigte. Obwohl sie sich mit so etwas nicht auskannte, wusste sie genau, was sie zu bedeuten hatten. Die Blutdruckkurve stieg und sank, genau so die Herztöne, mal schneller, mal langsamer.
Sie erinnerte sich an die Worte des Arztes, der ihr sagte, sie solle mit ihm reden. Sollte sie es tun, oder vielleicht doch nicht? Carla entschied sich dafür.
„Sag mal du!“, sprach sie ihren Liebsten an, „Was machst du für Scheiße? Du wirst mich doch wohl nicht einfach so hier alleine zurücklassen wollen? Wag es ja nicht!“ Wut kochte in ihr hoch, Wut darauf, was geschehen war, aber auch Wut auf sich selbst. Dabei hatte sie keinen Grund dafür, wütend auf irgendwen zu sein. Niemand konnte etwas dafür, am wenigstens sie und er genau so wenig. Es war Schicksal, das jetzt gnadenlos zugeschlagen hatte.
Langsam beruhigte sich Carla wieder. Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Seine Hand lag neben ihm auf der Bettdecke. Blass sah sie aus, wie gefroren. Als sie es wagte, nach ihr zu greifen, war sie erstaunt, wie kalt die Hand wirklich war. So als wäre bereits kein Leben mehr in ihr. Erschrocken schaute sie auf den Bildschirm. Nein, sie hatte sich geirrt. Noch war Leben in ihm, ein klein wenig nur, aber Leben, an das sie sich jetzt verzweifelt klammerte.
Die Zeit verging, es wurde dunkel. Neue Schwestern betraten den Raum, auch eine andere Ärztin kam hinzu. Sorgfältig wurde der Patient gepflegt, ebenso wurde mit Carla gesprochen, etwas zu essen wurde angeboten. Wie konnten sie in so einer Situation ans Essen denken? Nichts bekäme sie herunter. Doch die angebotene Flasche Wasser nahm sie dankend an. Ihr Mund war ausgetrocknet, als hätte sie schon tagelang keinen Tropfen getrunken.
Irgendwann war Carla auf ihrem Stuhl eingeschlafen. Sie fror, obwohl es nicht kalt war im Zimmer. Fröstelnd erwachte sie, als die Tür aufging und die Ärztin von vorhin wieder hereinkam.
„Wollen sie nicht eine Weile nach oben gehen und sich hinlegen?“, fragte sie Carla. „Wir haben für solche Fälle oben auf Station Zimmer für die Angehörigen. Wir rufen sie sofort, falls etwas sein sollte.“ Doch Carla wollte nicht, sie verlangte nur eine Decke, die sie auch bekam. So verbrachte sie die Nacht bis gegen 2 Uhr. Da kam erneut die Ärztin und schaute nach dem Patienten und ihr.
Sie erkannte Carlas Zustand und bat sie erneut, sich für eine Weile hinzulegen. In Carlas Kopf schwirrten tausend Fragen, es brummte und summte wie in einem Bienenschwarm.
„Ich gebe ihnen auch etwas, damit sie ein wenig schlafen können“, bot sie ihr an.
Diesmal gab Carla nach, doch die Medikamente wollte sie nicht.
„Ich möchte nichts nehmen“, erwiderte sie. „Ich will mich nicht betäuben, um das hier zu überstehen!“
Die Ärztin akzeptierte Carlas Entscheidung und entschied, sie nicht weiter zu überreden. Dafür begleitete sie sie eine Etage nach oben, wo die Zimmer waren. Eine nette Nachtschwester empfing sie. Die Ärztin redete leise mit ihr, dann verschwand sie. Die Schwester nahm sich Carlas an und führte sie in ein Zimmer mit zwei Betten.
„Suchen sie sich eins aus“, wurde Carla gebeten. „Ich bringe ihnen noch Waschzeug und etwas zu trinken. Möchten sie essen? Auch das kann ich bringen.“
Carla wollte nur ein Getränk haben, das ihr gleichzeitig mit dem Waschzeug aufs Zimmer gebracht wurde.
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Allein gelassen sah sich Carla in dem tristen Zimmer um, wie halt so Krankenhauszimmer so sind. Recht spartanisch eingerichtet, ohne große Schnörkel. Nur ein buntes Bild zierte die eine Wand, es gab auch einen Fernseher. An dem hatte sie aber kein Interesse.
Sie schrieb noch eine SMS an ihre Freundin in der Schule: „Es sieht nicht gut aus“, teilte sie nur kurz mit, zu mehr war sie nicht fähig.
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Ausgestreckt lag Carla auf dem Bett. Von dort aus konnte sie in den Innenhof der Klinik blicken, den sie von vorherigen Besuchen schon kannte. Oft saß sie bei schönem Wetter dort mit ihrem Liebsten draußen und genoss die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres. Ihre Gedanken flogen zu ihm, der jetzt allein gelassen eine Etage tiefer im Intensivbett lag. Carla wurde erneut traurig, als sie an das denken musste, das in nicht allzu langer Zeit auf sie treffen würde. Wann es geschehen würde, das wusste niemand. Noch nicht einmal Gott wollte ihr darauf eine Antwort geben. Carla war keine besonders gläubige Person, doch in diesem Moment betete sie zu Gott, es niemanden so schwer zu machen. Irgendwann musste sie über ihren dunklen Gedanken eingeschlafen sein.
„Hallo, werden sie wach“, hörte Carla plötzlich eine ihr unbekannte Stimme. Jemand berührte sie am Arm. Sie öffnete die Augen. Wo um Himmels Willen war sie hier? Erschrocken fuhr sie auf.
„Nicht erschrecken“, sagte die fremde Stimme wieder. Nun war Carla richtig wach. Sie blickte neben sich und sah dort die Nachtschwester, die sie ansprach.
„Sie sollen bitte nach unten kommen“, redete die einfach weiter. „Aber bitte keine Eile, machen sie langsam.“
„Was ist passiert? Ist es schon vorbei?“ Carla erbebte. Sie sprang aus dem Bett. Ein Taumel erfasste sie. Sie musste sich am Rahmen festhalten, damit sie nicht zu Boden fiel.
„Langsam, nicht, dass sie noch fallen!“, wurde sie erneut von der Nachtschwester ermahnt. „Sie werden erwartet. Ich lasse sie jetzt allein. Lassen sie hier einfach alles wie es ist, ich kümmere mich dann drum“, sagte sie noch, ehe sie zur Tür hinausging.
Carla suchte die Hose, die sie, bevor sie sich hinlegte, ausgezogen hatte. Schnell war sie übergestreift und die Schuhe angezogen. Ein kurzer Blick in den Nachttisch bestätigte ihr, sie hatte alles eingesteckt, das sie mitgenommen hatte.
In der Intensivstation wurde Carla schon erwartet. Die Ärztin vom Vorabend war immer noch da. Kurz erklärte sie ihr die Vorkommnisse während ihrer Abwesenheit. Carla war geschockt. Sollte das jetzt schon der endgültige Abschied sein. Die Werte, die der Bildschirm anzeigte, bestätigten ihr die Aussage der Ärztin. Die Linien wurden immer flacher. Auch das Piepsen war nicht mehr so regelmäßig wie noch kurz nach Mitternacht. Kein gutes Zeichen.
Nun war sie allein mit ihrem Liebsten im Zimmer. Er lag immer noch regungslos auf dem Bett. Noch hob und senkte sich sein Brustkorb im Takt, den die Beatmungsmaschine angab. Sie wusste, es war nur die Maschine, die atmete, nicht er selbst.
Draußen im Flur wurde es rege, leise Stimmen waren zu hören. Die Ärztin besprach sich mit einer Schwester.
„Wir schalten jetzt ab“, hörte Carla von draußen. Die Tür war offen, daher konnte sie alles genau hören. War es Zufall, dass die Tür geöffnet blieb, oder war es so gewollt? Sie wusste es nicht. Carla legte sich mit auf das Bett, dicht an ihn. Ihre Arme umschlangen ihn, so gut es nur ging. Vorsichtig küsste sie seine Stirn, seine Wangen, seine Augen. Leise flüsterte sie ihm „Ich liebe dich“ zu. Dabei vernahm sie, wie sich Schritte näherten.
„Wir möchten jetzt…“, begann die Ärztin, doch sie wurde von Carla einfach unterbrochen.
„Ich weiß, tun sie es“, kam es schluchzend von ihr. Die Emotionen schwappten über. Am liebsten hätte sie laut geschrien: „Nein, macht es nicht!“ Doch sie wusste, es ging kein Weg daran vorbei. Sie hielt ihn ganz fest in ihren Armen, wollte ihn nicht loslassen und ihn auf dem letzten Weg hinüber begleiten.
Ein Klick… Stille, beinahe gespenstige Stille, folgte. Carla erschrak nochmals, er tat einen letzten Atemzug, dann nur noch eine unheimlichere Stille um Carla.
„Nein!“, schrie sie auf. Doch es war schon zu spät.
„Todeszeitpunkt am 19.03.2015 um 06:23 Uhr“, vernahm sie die leise Stimme der Ärztin. Dann war sie wieder allein.
„Die werden mich doch nicht einfach so alleine lassen! Mit einem Toten! Das geht doch nicht!“, Carla gruselte sich. Es war erst das zweite Mal, dass sie einem eben Verstorbenen so nah kam. Doch sie war wirklich allein mit ihm. Einfach so. Sie konnte es nicht glauben.
Carla stand auf und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Ihre Hand legte sie auf seine, die jetzt noch blutleerer war als letzte Nacht. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Doch gehen wollte sie auch noch nicht, noch nicht jetzt. Später, vielleicht, oder auch gar nicht. Sie sah ihn an, wie er jetzt dalag, ohne jegliche Regung. Er sah aus, als würde er lächeln und sich freuen, dass er es geschafft hatte, hinüberzugehen in diese andere Welt, die wir alle irgendwann betreten werden müssen und niemand weiß, wo sich diese Welt befindet und ob es sie wirklich gibt.
Nach einiger Zeit kam die Ärztin herein und kümmerte sich um Carla.
„Es war gut, dass sie hiergeblieben sind“, sagte sie zu ihr. „Es war gut für sie, aber auch für ihn. Glauben sie mir, so konnte er leichter gehen.“ Nach einer Weile sagte sie noch: „Ich habe Hochachtung vor ihnen. Nicht jeder würde das machen, was sie getan haben. Wenn ich ehrlich sein soll, ich hätte nicht gedacht, dass sie bis zum Schluss durchhalten. Letzte Nacht hatte ich schon Angst, sie kippen um. Doch sie waren sehr tapfer. Das ist gut so. Sie können so besser abschließen.“
Carla dachte nach. War es wirklich so? Wenn sie so auf die Ereignisse der letzten Stunden zurückschaute, wusste sie, es war wirklich gut so. Es war gut, dass sie hiergeblieben war und ihn auf seinem letzten Weg begleitete.
Noch knapp zwei Stunden blieb Carla neben ihm sitzen, verabschiedete sich in aller Ruhe von ihm. Die Ärztin, aber auch die Schwestern gaben ihr die Zeit, die sie brauchte.
Währenddessen schrieb sie ihrer Mitschülerin eine weitere SMS: „Es ist vorbei, heute Morgen um 06:23 Uhr“, waren die Worte. Zurück kam nur ein entsetztes „Scheiße“.
Ihrem Freund schrieb sie bereits am Vortag über Skype, was passiert war. Jetzt musste sie ihm sagen, dass es noch schlimmer geworden war. Er war geschockt. Das Schlimmste stand ihr aber noch bevor: Sie musste es den Freunden in ihrem gemeinsamen Forum sagen. Doch auch dies schaffte sie am Abend noch. Die Welt brach für Viele zusammen. Auch sie konnten es nicht glauben, was sie ihnen mitteilte. Dennoch war es die Wahrheit. Die Anteilnahme, die ihr entgegenkam, war überwältigend. Noch heute, wenn sie die vielen Beiträge dazu liest, kommen ihr oft die Tränen vor Rührung. Doch das alles zu lesen, baut sie auf und gibt ihr neue Kraft.
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Für Carla fiel mit dem Tod ihres Liebsten eine Welt in sich zusammen. Die Welt, die für sie die letzten drei Jahre fast nur noch sonnig und voller Lebensfreude war. Nun brach die Dunkelheit abrupt über sie herein, unvorbereitet, volle Schlagseite mitten ins Gesicht. Würde sie je wieder aus dieser Dunkelheit hervorkommen können? Carla wusste es nicht. Das, was die Monate vorher geschehen war, war ein Zuckerschlecken dagegen.
Doch wo Dunkelheit ist, ist auch Licht, steht es irgendwo geschrieben. Das Licht kam, erst ganz langsam, doch stetig wurde es immer größer, leuchtender, heller. Das Licht blieb, bis heute. Sie hält es fest, ganz fest, damit es nicht wieder verschwinden kann. Aber eins wird nie vergessen sein: Er, der ihr das Lachen zurückgab und jetzt im Himmel über sie wacht.
Den Freund, den sie nebenher noch hatte, hat sie nach diesem einschneidenden Tag nur noch einmal wiedergesehen. Die beiden verbrachten zwei wundervolle Tage miteinander, die sie aufbauten und ihr neuen Lebensmut gaben. Danach ging es ihr besser. Als Carla ihm irgendwann mitteilte, dass es da jemanden Neues im ihrem Leben gibt, freute er sich mit ihr, auch wenn er wusste, die gemeinsame Zeit ist nun zu Ende. Traurig sind deswegen beide nicht. Sie hatten beide etwas, das sie teilten: Er einen Freund und sie einen Lebensgefährten, beide trugen sie auf Händen. Nun war die Zeit gekommen, dass sie ihren eigenen Weg beschritt. – und das tut sie, jeden Tag, ob Dunkel oder Hell.
© Milly B. / 13.12.2015