Anfang Juni 1978
„Mutti muss ins Krankenhaus“, sagte mein Vater wie nebenbei, als wir zusammen an einem Sonntag am Küchentisch saßen und zu Mittag aßen. Wir, das waren meine Mutter, mein Vater, mein drei Jahre jüngerer Bruder und ich.
Erschrocken schauten mein Bruder und ich von unseren Tellern hoch. Wir wussten, Mutti war schon lange krank und kein Arzt konnte sagen, was ihr fehlte. Unzählige Untersuchungen musste sie bereits über sich ergehen lassen, aber niemand fand etwas. Von unserem Hausarzt wurde sie sogar schon als Simulantin betitelt. Sie wäre 34 Jahre alt, eine junge Frau und da müsse sie doch gesund sein. Und nun musste sie, trotz dass sie angeblich kerngesund war, ins Krankenhaus. Am ganzen Körper hatte sie blaue Flecken, die aussahen wie Schmetterlinge. Keiner wusste, woher die auf einmal kamen und im Krankenhaus wollten sie genau dies herausfinden. Daher bekam sie eine Einweisung in die Hautklinik nach Leipzig-Dösen.
Ich wagte es als Erste, das Wort zu ergreifen. „Wann?“, fragte ich nur. Mein Hals war trocken, meine Stimme krächzend.
„Am 12. Juni“, erwiderte meine Mutter, die Mühe hatte, die Contenance zu bewahren. Sie hatte schon immer nah am Wasser gebaut und weinte viel. Wir Kinder wussten nicht, warum sie manchmal wie aus heiterem Himmel weinte. Jetzt, so viele Jahre später, denke ich, sie wusste nicht richtig mit der Situation umzugehen. Immerhin war sie erst 34 Jahre alt, litt an einer unbekannten Krankheit, hatte Haushalt, Kinder, Ehemann und eine Schwiegermutter, die sie nicht besonders mochte. Dazu die ständige, wie aus heiterem Himmel kommende Schwäche.
Der 12. Juni kam. Ich erinnere mich, es war ein Montag. Mit Grummeln im Magen dachte ich daran, dass ich ab diesem Tag meine Mutter auf unbestimmte Zeit nicht sehen würde. Mein Vater brachte sie ins Krankenhaus nach Leipzig. Ich musste zur Schule, mein Bruder in den Kindergarten. Als wir am Nachmittag nach Hause kamen, war Mutti weg und mein Vater saß teilnahmslos am Küchentisch. „Wird schon“, versuchte ich ihn mit meinen neun Jahren zu trösten. Was ich nicht wusste, es würde nie wieder so werden wie vorher und wir Kinder auf lange Zeit ohne Mutter auskommen mussten.
Die Tage waren fast wie immer. Oma kümmerte sich um uns, wenn Papa auf Arbeit war. Zum Glück lebten wir in einem Haus, Oma und Opa unten, wir oben. Papa war oft arbeiten, auch an den Wochenenden. Damals arbeitete er im Kuhstall, da musste man zeitig aus den Federn und das nicht nur von Montag bis Freitag. Früh, wenn wir aufstehen mussten, war er schon weg und kam irgendwann am Nachmittag. Danach die Arbeit auf dem Bauernhof, die Tiere versorgen, Gartenarbeit und vieles mehr. Für uns Kinder hatte er leider nur wenig Zeit. Doch wir verstanden es und halfen, wo wir konnten. In regelmäßigen Abständen kam Oma Dora, die Mutter meiner Mutter und machte im Haushalt Klarschiff. Oma Ilse tat zwar auch ihr Bestes, doch sie kümmerte sich mehr um uns und um die Wäsche, bei der ich jedes Mal tatkräftig mithelfen musste.
Eines Tages, meine Mutter war schon einige Zeit im Krankenhaus, saß ich draußen auf der Treppe vor dem Haus. Großmutters Küchenfenster war offen, meine Oma Ilse und mein Vater saßen in der Küche und sprachen miteinander.
„Christa hatte einen schlimmen Schlaganfall“, hörte ich meinen Vater sagen. Traurigkeit war in seiner Stimme. Ich blieb mucksmäuschenstill sitzen. Lauschen gehörte sich zwar nicht und wenn ich erwischt werden würde, bekäme ich von Oma eine hinter die Ohren. Trotzdem, ich musste wissen, was mit meiner Mutter war.
„Auch das noch“, antwortete meine Oma.
„Es sieht nicht gut aus. Keiner weiß, ob Christa überleben wird“, sprach mein Vater weiter. „Was soll nur werden, wenn sie nicht überlebt?“
Im letzten Moment konnte ich einen lauten Schrei unterdrücken. Der Schreck saß mir in den Gliedern, ich war wie erstarrt. Meine Mutter sollte so sehr krank sein, dass sie vielleicht sterben wird! Ich konnte es kaum glauben.
Erst viele Jahre später erzählte ich meinem Vater, dass ich das Gespräch mit meiner Oma belauscht hatte und fragte ihn, warum er mir nie gesagt hatte, was mit Mutti geschehen war. Er wollte mich nicht damit belasten, meinte er nur darauf. Außerdem wäre ich zu jung gewesen, es zu verstehen.
Die Wochen vergingen, inzwischen war vier Monate verstrichen. Endlich wurde meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen. Ich hatte sie seit Juni nicht wieder gesehen, erinnere mich aber, dass ich zweimal mit zur Besuchszeit durfte, aber nicht mit hineingelassen wurde. Ich musste draußen im Auto warten, bis mein Vater zurückkam. Das war einmal in der Hautklinik in Leipzig-Dösen und einmal im St. Georg am Botanischen Garten.
Der Entlassungstag war ein Freudentag. Mutti war endlich wieder zu Hause. Ich konnte es kaum erwarten, dass die Schule zu Ende war. Doch oh Schreck. Es war nicht mehr die Mutter, die uns vor Monaten verlassen hatte. Hinkend, aber vor Freude lachend versuchte sie, uns entgegenzukommen. Der rechte Arm hing wie tot an der Seite herunter, das rechte Bein zog sie nach. Doch die Freude, dass sie endlich wieder zu Hause war, überwog.
Von nun an war unser Familienleben nicht mehr so wie vorher. Mutti war zwar zu Hause, konnte aber so gut wie nichts tun. Sie versuchte es, versagte aber oft. Ich musste mehr im Haushalt helfen. Inzwischen war ich zehn Jahre alt. „Da kann ein Mädchen schon was mit machen“, mahnte mich Oma Ilse oft.
Doch je älter ich wurde, desto schwerer fiel es mir, zu helfen. Doch es ging kein Weg vorbei, ich musste es tun. Meine Oma bestand darauf und mein Vater versuchte es mit guten Worten.
Die Tage meiner Mutter waren mit Arztbesuchen aufgefüllt, eine Physiotherapie folgte der nächsten. Zum Glück hatte sie sich daran gewöhnt, eine Gehhilfe zu benutzten. Das tut sie auch heute noch, wenn sie die Kraft hat, sich auf eigenen Beinen fortzubewegen. Oft ist das nicht, wir jedoch sind froh über jeden Schritt, den sie gehen kann.
Da Mutti aufgrund ihrer Behinderung nicht mit dem Bus fahren konnte – es gab damals bei uns keine behindertengerechten Einstiege in den Bus, wurden wir bei der Vergabe von Autos bevorzugt behandelt. Im Januar 1979 konnten wir unseren Trabant schon abholen.
Im Laufe der Zeit ging alles besser von der Hand. Sie konnte wieder sprechen, oft zwar nur abgehackt und genauso oft fehlten ihr die Worte. Sie wusste sie zwar, konnte sie aber nicht aussprechen. Wortfindungsstörung wird dies genannt, wie ich heute weiß. Das Problem besteht auch heute noch. Wir können damit umgehen, machen aber auch manchmal unsere Witze darüber, wie „Spuck´s aus, wir sortieren es“, was jedes Mal eine Lachsalve bei meiner Mutter auslöst.
Wie das Sprechen und Laufen musste meine Mutter auch das Schreiben wieder erlernen. Dieses Mal mit der linken Hand, denn rechts geht gar nichts.
Irgendwann sagte der Arzt, wenn sich die Symptome innerhalb von fünf Jahren nicht bessern, wird sich am Zustand nichts ändern. Auch fünf Jahre später war die Lähmung an Arm und Bein noch vorhanden.
2023 sind seit diesen schrecklichen Monaten 45 Jahre vergangen. Meine Mutter ist inzwischen 79 Jahre alt. Sie hat ihr Leben gemeistert, trotz Handicap und mittlerweile seit drei Jahren im Rollstuhl. Sie hat nie den Lebensmut verloren und kämpft tapfer weiter, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat…
Mein Vater, auch nicht mehr der Jüngste mit seinen 83 Lenzen, ist noch an ihrer Seite. Trotz Unkenrufen und bösen Ratschlägen seiner Mutter, hielt er zu seiner Ehefrau. Das rechne ich ihm hoch an und ziehe den virtuellen Hut vor ihm.
Einmal in der Woche kommt ein Physiotherapeut, der mit meiner Mutter Geh- und andere Übungen macht. So lernte sie auch, allein in die Dusche zu steigen. Ich bin zwar beim Ein- und Aussteigen, sowie Duschen dabei, denn ich möchte nicht, dass sie allein ist, falls es doch einmal zu einem Sturz kommen sollte. Von Stürzen können wir nämlich ein Lied singen. Nicht nur einmal kam es dabei zu einem Armbruch. Zum Glück ist dabei nicht noch Schlimmeres geschehen.
Einmal im Halbjahr kommt ein Pflegedienst, der den Pflege- und Allgemeinzustand meiner Mutter überprüft. Den meines Vaters gleich mit, denn der hat inzwischen auch die Stufe 2, so sehr er sich auch dagegen sträubt. So meinte er letztens, die Physiotherapie meiner Mutter wäre sinnlos. Die Frau vom Pflegedienst sagte aber, die Therapie wäre dazu da, das noch vorhandene, zu erhalten. Und ich sagte, wir könnten froh sein, dass Mutti überhaupt noch was kann. Es könnte viel schlimmer sein.
Nun bin ich als Tochter seit einigen Jahre in der Pflicht, mich um meine Mutter zu kümmern. Doch ich tue es gerne, auch wenn es nicht immer einfach ist. Die Krankheit hat uns alle zusammengeschweißt, meine Mutter und mich, aber auch uns alle als Familie. Wir sind alle der Meinung, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, egal ob er steinig ist oder eben. Irgendjemand sagte mal, als wir Kinder waren, waren unsere Eltern für uns da. Und wenn die Eltern irgendwann mal alt wären, dann müssten die Kinder für sie da sein und sich kümmern. Diese Worte haben sich in mein Hirn gebrannt. Ich bekam schon oft zu hören, gebe sie doch ins Heim. Nein, das kann ich nicht, nur über meine Leiche.
Auch wenn meine Kindheit nicht die war, was wir uns heute unter glücklicher Kindheit vorstellen. Wir waren trotz der vielen Hindernisse glücklich und – ich habe die beste Mutter auf der ganzen Welt, die ich mehr liebe als mein eigenes Leben. Außerdem habe ich sehr viel für mein Leben gelernt – Nimm Jeden so wie er ist, auch Menschen, die mit Behinderungen leben müssen, sind es wert, geliebt und umhegt zu werden. Denn auch die brauchen Liebe und Geborgenheit, meist sogar sehr viel mehr als nichtbehinderte Mitmenschen. Dies gebe ich auch an meine Kinder und Enkelkinder weiter.
2018 feierten meine Eltern Goldene Hochzeit. 50 Jahre zusammen durch Höhen und Tiefen. Wie glücklich bin ich, dass meine Mutter das erleben durfte – es hätte auch ganz anders kommen können, damals mit 34 Jahren…
Auszug aus der Festrede zur Goldenen Hochzeit meiner Eltern im Jahr 2018
Goldene Hochzeit feiern heute,
unsere Eltern und die ganze Meute.
Das Glück war Euch hold,
aus Silber wurde Gold.
Es lebe hoch das Jubelpaar,
das heut vor nunmehr 50 Jahr
in großer Liebe sich gefunden
und fürs Leben hat verbunden.
Genießt gemeinsam das Schöne auf Erden,
mit Schwung wird‘s dann die “Diamantene” werden.
Alle haben sich heute die Zeit genommen,
um zu Eurem Fest zu kommen.
Aller Dank ist hier zu klein,
wir hoffen, Ihr werdet noch lange bei uns sein.
Heute ist zwar nicht der Tag der goldenen Hochzeit, der war, wie allen bekannt ist, bereits am 04. März 2018. Aber wir sind heute hier beisammen, um mit meinen Eltern den Tag nachzufeiern. Vor 50 Jahren, am 04. März 1968 gaben sie sich still und heimlich das Ja-Wort. Obwohl ich selber kurz vor dem 50. Geburtstag stehe, kann ich mir immer noch nicht vorstellen, wie lang solch eine Zeitspanne ist. Ich ziehe aber immer noch vor jedem Paar den Hut, das diese Schwelle gemeinsam überschreitet und all die Jahre zusammengehalten hat wie Pech und Schwefel.
Auch wenn nicht aller Tage Sonnenschein war, haben meine Eltern die Hürden des Lebens gemeistert. Ob es Ärger mit uns Kindern war, als wir noch kleine Hosenscheißer waren, oder später, als wir zu Pubertieren mutierten und ihnen das Leben schwermachten. Aber auch noch sehr viel später, als wir jeder unseren Lebenspartner gefunden hatten und unser eigenes Leben führten. Ich weiß, wir Kinder waren nie einfach und pflegeleicht. Sind das Kinder überhaupt? Immer fandet Ihr die richtigen Worte für uns. Wir fühlten uns nie allein gelassen und immer geliebt.
Eine sehr große Hürde war die schwere Erkrankung meiner Mutter. Monatelang lag sie im Krankenhaus. Aber unser Vater glaubte immer daran, dass seine Frau wieder gesund wird. Sie wurde es zwar nicht ganz, wurde aber einigermaßen wiederhergestellt, dass sie zurück zu uns konnte. Die Zeit danach war schwer, aber es gab nichts, was nicht zu schaffen war. Ich werde meinem Vater bis an mein Lebensende dankbar sein, dass er nie aufgegeben und daran geglaubt hat, dass alles wieder gut wird. Vor allem aber auch, dass er allen Unkenrufen zum Trotze zu unserer Mutter gestanden hat und immer noch steht.
© Milly B. / 14.01.2023