Gedanken über das eigene Ich
Wie es plötzlich kommen konnte, darauf kann ich mir keinen Reim machen. Es kam einfach so, von jetzt auf gleich. Wie ein Vulkan brach es aus mir heraus. Einer Lavaeruption gleich schoss es hervor, ergoss sich in großen Strömen über mein Leben. Einen Stopp zu versuchen war zwecklos. Unbarmherzig bahnte es sich seinen Weg in meinen Kopf.
Ja, mein Leben… was war das eigentlich? Ich lebte ruhig, vielleicht sogar zu ruhig. Ich weiß es nicht. Seit Jahren verlief es in ruhigen Bahnen. Beziehungen lösten sich ab, kürzere und längere. Auch Ehen waren dabei, mehr oder weniger gut. Am Ende bei jeder nur Frust und Leid. Familie, Kinder… Ehemann – war das alles, was das Leben von mir verlangte?
Der, der mir wirklich guttat, starb in meinen Armen. Ich trauerte lange. Doch das ist nun vorbei. Die Eruption war der Auslöser des Endes meiner Trauer. Das ist auch gut so, mir geht es nun besser.
Doch nun machte ich mir plötzlich Gedanken über mein Leben. Über 50 Jahre alt musste ich werden, um einmal darüber nachzudenken! Warum nur tat ich es nicht viel früher? Wäre dann vieles anders verlaufen? Fragen über Fragen, die ich mir nicht und wohl auch kein anderer beantworten kann.
Jetzt auf einmal erkannte ich, wie fremd ich mir war. Dabei sollte ich mich doch kennen!
Nein, ich kannte mich selbst nicht! Warum wohl? Diese Fragen erzeugten immer wieder nur Schulterzucken.
Nahm ich zu viel Rücksicht auf andere, auf die Belange von Familie und Freunden? Wollte ich es allen recht machen? Und ließ mich dabei einfach außen vor? Wo blieb ich? War ich mir so wenig wert, dass ich nicht auf mich selbst achtete?
Für meine Familie tue ich alles, würde für jeden meiner Lieben durchs Feuer gehen. Doch ist es richtig, immer nur an andere zu denken und nie an sich selbst?
Wenn ich so zurückdenke, dann wurde ich mir im Laufe der Zeit immer fremder. Darüber kann ich heute nur den Kopf schütteln. Sollte ich mich nicht besser kennen? Oh je, was ist das nur? Musste ich so alt werden, um das endlich zu erkennen? Was war der Auslöser dieser Situation?
Denke ich genau nach, sehe ich jemanden, der vor gar nicht allzu langer Zeit in mein Leben trat. Genauso plötzlich und wie ein tosender Orkan, der mich einfach übermannte und mich für sich einnahm. Anfangs war ich ein wenig verwirrt, hatte sogar Angst. Doch dann erkannte ich: Ja, er tut mir gut. Ein erleichtertes Seufzen entfleuchte meinen Lippen. Schmetterlinge im Bauch, das verräterische Kribbeln, das man hat, wenn Frau unsterblich in einen Mann verliebt ist. Die Sehnsucht nach Umarmung und Liebe, Zweisamkeit, Gemeinsamkeit, Geborgenheit und noch so sehr vielem mehr.
Ist er es, der die Fremde in mir zum Vorschein brachte und mich dazu animierte, nachzudenken und mehr auf mich zu achten? Sollte ich die Fremde endlich in die Verbannung schicken? Sie von dannen scheuchen wie einen gemeinen Strauchdieb? Auf Nimmerwiedersehen?
Diese Fragen stellte ich mir nur ein einziges Mal. Die Antwort lautete: Ja, er ist es und er ist der Mann, der die Fremde in mir endlich zum Teufel jagte … und der Mann, den ich liebe.
© Milly B. / 21.10.2021