Die erste Nacht in der Türkei war eher unspektakulär. Ich war nur noch müde und wollte schlafen. Dafür war die Fahrt auf den Berg mehr als waghalsig und aufregend für mich.
Am Vormittag wurden wir vom Bruder meines Freundes abgeholt. Sein Auto war eine Zumutung, Schrottkiste würden wir hier dazu sagen.
Neben der Straße gab es einen Fluss, der unten in der Stadt ins Schwarze Meer mündete. In der Stadt war er breit und es gab Brücken, um ihn überqueren zu können. Doch je weiter man in die Berge hineinfuhr, desto schmaler wurde er. Irgendwann, kurz hinter dem Dorf, musste man diesen Fluss – den Manahoz Deresi - überqueren. Eine Brücke gab es damals noch nicht, so musste man, ob man wollte oder nicht, durch das Wasser fahren. Er war zwar hier oben nicht sehr tief und auch nicht sehr breit, doch etwas waghalsig war es für mich schon. Mit einem großen Fahrzeug, wie wir es hatten, war das wohl kein Problem. Doch mit einem PKW, der viel tiefer lag, würde das bestimmt Ärger geben oder man würde stecken bleiben. Ich kam später noch öfter in den Genuss, den Fluss mit einem PKW überqueren zu müssen. Doch da war ich schon mutiger geworden.
Je höher wir fuhren, desto gefährlicher wurde die Straße. Ich getraute mich schon gar nicht mehr, einen Blick aus dem Wagenfenster zu werfen. Links nur Berg, rechts, nur wenige Zentimeter neben der Straße tiefer Abhang, dessen Grund uneinsehbar war. Die Straße war sehr eng und holprig, dass man aufpassen musste, nicht abzukommen. Dann wäre man unweigerlich abgestürzt. Kam einem ein Fahrzeug entgegen, musste einer von beiden so lange rückwärtsfahren, bis es eine Möglichkeit gab, ein wenig auszuweichen.
Ach du liebe Scheiße, wo bin ich hier nur hingeraten, dachte ich mir.
Mein Freund und dessen Bruder lachten nur, wenn ich es mal wagte, aus dem Fenster zu schauen und prompt öfters einen Schreckensschrei ausstieß.
Bis wir oben ankamen, starb ich fast noch weitere tausend Tode. Wie ich das damals überlebt habe, das wundert mich heute noch. Doch Jahre später fuhr ich diese Straße ganz alleine im Auto, auch nachts, ohne jegliche Angst zu haben – nur einmal hatte ich doch mächtige Angst, darüber erzähle ich erst später. Auch jetzt, wo ich schon fast vier Jahre nicht mehr dort war, würde ich den Weg bis hoch finden, ohne mich zu verfahren. Es gab da so kleine Anhaltspunkte, die sich in mein Gedächtnis eingeprägt haben.
Die Landschaft allerdings war herrlich. Berge über Berge, einer höher als der andere. Alles bewaldet und nur ganz wenig bewirtschaftet. Die Leute holten sich dort nur ihr Holz zum Heizen. Alles andere blieb, wie es war. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ganz weit oben sah ich schon den ersten Schnee liegen. Die Bergkuppen sahen aus, als hätten sie weiße Mützen auf.
Endlich waren wir angekommen. Ich war heilfroh, die Fahrt ohne ärgerliche Blessuren überstanden zu haben.
Was würde mich jetzt jedoch erwarten? Ich wusste, die Eltern meines Freundes sind streng gläubige Moslems. Sollte ich mich gar verhüllen, oder doch lieber nicht?
Zum Glück erinnerte ich mich daran, was ich vor der Abfahrt zu meinem Freund gesagt hatte. Er meinte damals zu mir, ich müsse zumindest ein Kopftuch tragen, wenn ich zu seinem Vater komme. Allerdings war ich davon nicht gerade begeistert. Ich und Kopftuch tragen – nie und nimmer. So sagte ich trotzig, wenn sein Vater mich nicht so akzeptiert, wie ich bin, komme ich erst gar nicht mit. Dass mir mit diesem streng gläubigen Moslem allerdings ein sehr offen denkender Mann begegnen würde, das ahnte ich damals noch nicht. Ich akzeptierte seine Religion und würde auch nie etwas tun, um ihn oder seine Religion zu beleidigen. Ich selbst bin zwar nicht religiös erzogen worden, das war zu DDR-Zeiten, als ich noch ein Kind war, sehr verpönt. Doch war ich zu Akzeptanz erzogen worden, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind.
Solch einem Menschen sollte ich nun hier in der Türkei begegnen. Meine Aufregung wuchs ins Unermessliche. Sehr gespannt war ich auch auf die Mutter, von der mir mein Freund immer erzählt hatte, sie wäre eine herzliche Frau.
Endlich war es soweit. Ich stand meinen Schwiegereltern in spe Auge in Auge gegenüber. Die Begrüßung war sehr herzlich. Ich wurde abgeknutscht, Küsschen links, Küsschen rechts, so wie es bei den Türken üblich ist. Das war ich bereits gewöhnt. Es wurde natürlich auf mich eingeredet. Ich verstand damals nur Bahnhof. Wieder lachte alles. Mein Freund übersetzte, ich antwortete, er übersetzte, was ich sagte.
Allerdings bekam ich an diesem Tag auch noch einen weiteren Schock. Das, was mir heute zu Augen kam, hatte ich nicht erwartet. Ich wusste, die Familie meines Freundes lebte in einem eigenen Haus. Dabei würden wir es hier nicht gerade als Haus bezeichnen, eher als Hütte, die an einen Berg geklatscht wurde. Es war zwar sehr gemütlich, doch für deutsche Verhältnisse, sah alles sehr ärmlich aus. Damals verglich ich das Haus mit einer mittelalterlichen Hütte. Es gab zwar Strom, doch kein fließendes Wasser im Haus. Nur draußen vor dem Eingang gab es einen Wasserhahn, dessen Leitung irgendwo von der Bergen herunterkam und mit frischem Quellwasser gespeist wurde. Ich habe immer gesagt, Wasser von Berg. Einen Fernseher gab es damals schon, allerdings keine Waschmaschine. Die Kleidung wurde noch in einer großen Schüssel per Hand gewaschen. Das kannte ich auch noch aus meiner Kinderzeit.
Im Laufe des Nachmittags kamen immer mehr Leute. Wahrscheinlich gab es da eine Art Buschfunk, wenn Besuch aus Deutschland da war. Ich wurde von einigen bestaunt. Eine Frau ohne Kopftuch, das geht doch gar nicht. Ich hatte mich ja entschieden, keines zu tragen. Und, oh Wunder, der Vater akzeptierte es. Die Besucher, vorwiegend männliche, wagten es oft nicht, mir ins Gesicht zu schauen. Sie waren es wohl nicht gewohnt, einer Frau ohne die typische Kopfbedeckung gegenüberzustehen. Mir machte es nichts aus. Ich fühlte mich irgendwie wohl dort. Mir kam es vor, als würde ich schon immer dazu gehören. Die Mutter meines Freundes war sehr freundlich zu mir. Sie wich mir nicht von der Seite. Ich mochte sie ebenfalls, gleich vom ersten Augenblick an. So erging es mir auch beim Vater, den ich recht lustig fand. Dass er noch kleiner war als mein Freund, überraschte mich. Mein Freund war schon knapp zehn Zentimeter kleiner als ich. Doch der Vater war noch kleiner. Ich dachte bei mir, ich könne ihn ohne weiteres unter den Arm klemmen und wegtragen.
Am Abend, als es ruhig geworden war, saßen wir noch alle beisammen. Die jüngste Schwester meines Freundes hatte den Abwasch des Geschirrs vom Abendessen erledigt. Nun wurde es langsam ruhig im Haus. Wir hatten uns alle in der Küche versammelt, wo in einem kleinen Herd ein Feuer prasselte und den Raum in eine Art Sauna verwandelte. Es war zwar Ende Oktober, aber immer noch so warm, dass man nicht heizen musste. Der Ofen wurde halt benötigt, um zu kochen oder heißes Wasser zu bereiten.
Über der Tür gab es ein kleines Regal. Ich erinnere mich noch genau, dass auf diesem Regal einige dicke Bücher aufbewahrt wurden. Eines davon war der Koran. Ich war neugierig, doch wagte ich es nicht, dieses heilige Buch herunterzunehmen, um es zu betrachten.
Baba* allerdings, so nannte ich den Vater später, nahm genau dieses Buch herunter, klappte es auf und begann zu lesen. Ich verstand zwar nicht, was er daraus in arabisch vorlas, doch lauschte ich andächtig seiner Rezitation. Ich ahnte, es war eine Sure, die er da vorlas. Obwohl ich kein einziges Wort davon verstand, war ich sehr überwältigt von dem Vortrag. Dass es ein Art Ritual war, das Baba jeden Abend vollzog, wusste ich damals noch nicht. Ich konnte diesem Ritual sehr viele Male beiwohnen. Jedes Mal war es sehr überwältigend für mich, Baba beim Vortrag lauschen zu dürfen.
Jahre später hatte ich meinen eigenen Koran und las die Suren in deutsch.
Damals, als ich zum ersten Mal damit in Berührung kam, verstand ich nur Yasin. So suchte ich eine Sure, in der Yasin vorkam. Ich fand sie auch, die Sure 36**. Yasin wurde dann drei Jahre später der zweite Vorname meines jüngsten Sohnes, der 1998 geboren wurde. So habe ich immer eine Erinnerung an diese Sure.
Dass ich gleich bei meinem ersten Aufenthalt in der Türkei mir einen Koran gekauft hatte, überraschte Baba sehr. Ich brachte ihn abends mit, als wir wieder in der Küche beisammensaßen und zeigte ihm das Buch. Erfreut sprang er auf und küsste mich überschwänglich. Am Tag waren wir in der Bezirksstadt gewesen. Neugierig wie ich war, musste ich auch in eine Buchhandlung und schauen, was es da an Büchern gab. Da entdeckte ich in einer Auslage einen Koran. Als ich hineinschaute, erkannte ich, er war in deutscher Sprache geschrieben, und ganz am Rand oben, die arabische Übersetzung. Ich kaufte das Buch, sehr zum Erstaunen des Bruders meines Freundes, der uns begleitet hatte.
Der Abend wurde noch lang. Wir saßen beisammen und plauderten. Ich verstand zwar so gut wie nichts, doch machte mir das nichts aus. Ich fühlte mich einfach wohl und kam mir vor, als wäre ich an einem Ort angekommen, zu dem ich gerne jederzeit zurückkommen will.
Nachts im Bett allerdings, sollte ich noch eine Überraschung erleben, an die ich anfangs gar nicht glaubte. Doch als mir das später noch mehrmals passiert ist und mir nicht nur einer von diesen Dingen erzählte, war auch ich davon überzeugt. Davon allerdings später.
*Baba – türkisch Papa oder Vater
** Yasin ist die Bezeichnung der Sure 36 des Koran (siehe: Ya-Sin) und ist eine Zusammensetzung aus den Buchstaben yā und sīn, die diese Sure einleiten.
Bedeutung
Über den Sinn und die Interpretation dieser Buchstaben vertreten die Koran-Exegeten zwei Meinungen: Eine Gruppe ordnet sie der Kategorie der mutaschabih ("Mehrdeutigen") zu, deren genaue Bedeutung nur Gott kenne. Eine andere Gruppe ordnet sie in die Kategorie der interpretierbaren Wörter.
Eine Deutung sieht in diesen Namen eine Herausforderung Gottes, die im Koran mehrfach auch ausformuliert steht und die an die arabisch sprechenden Nichtmuslime gerichtet ist: Wenn Mohammed kein Prophet sei, dann sollten sie doch ähnliches wie den Koran mit den gleichen Buchstaben verfassen. Könnten sie das aber nicht, so sei damit Mohammeds Prophetentum belegt. (Quelle: Wikipedia)
© Milly B. 24.05.2012