Heute war ein Besuch in Trabzon angesagt. Nein, diesmal stand kein Verwandtenbesuch an, wie Ihr jetzt vielleicht denkt. Wir wollten einfach in die Stadt. Dort spazieren gehen und mich ein wenig mit der Umgebung bekannt machen, damit ich mal etwas anderes sehe als nur das Dorf oder die nächstgelegene Stadt Sürmene. Schließlich hatten wir Urlaub, da wollten wir was erleben und nicht den ganzen Tag in der Bude hocken.
Aber zuerst einmal ein paar Worte zu Trabzon. Trabzon ist eine sehr alte Stadt im Nordosten der Türkei, direkt am Schwarzen Meer gelegen. Sie ist die östlichste Hafenstadt des Landes. Trabzon ist gleichzeitig Distrikthauptstadt und wirtschaftliches Zentrum des gleichnamigen Distrikts.
Dass sie sehr alt ist, kann man, wenn man mit offenen Augen durch die teilweise engen Gassen geht, sehen. Viele sehr alte Häuser griechischen Ursprungs formen das Stadtbild. Es soll sie schon in der Antike gegeben haben, was auch der alte Name der Stadt sagt. Trapezus sagten die Menschen in der Antike, die griechischen Siedler, die um das 7. Jahrhundert vor Christus die ersten Mauern erbauten. Sogar der römische Kaiser Hadrian hatte seine Hand im Spiel, als er um das 2. Jahrhundert vor Christus einen Hafen anlegen ließ und die Stadt noch weiter ausbaute. Von 1204 bis 1461 gehörte die Stadt zum Kaiserreich Trapezunt. Wem das Wort Seidenstraße etwas sagt, wird wohl auch wissen, dass in der Stadt sehr viel Handel betrieben wird. Händler an jeder Ecke bieten ihre Waren aus aller Herren Länder an. Gassen, in denen Gewürze verkauft werden, locken mit exotischen Düften die Käufer an. Trabzon wurde sogar einmal von Reiternomaden belagert und Alexander der Große eroberte die Stadt um 333 vor Christus. Es gibt noch sehr viel Geschichtliches zu erzählen, doch damit würde ich den Leser vielleicht nur langweilen. Nicht jeder interessiert sich für Geschichte, deshalb schreibe ich hier lieber von meinen eigenen Eindrücken.
In diese sehr geschichtsträchtige Stadt wollten wir nun fahren. Ich war sehr aufgeregt, als es endlich losging. Bisher hatte ich Trabzon nur bei Nacht gesehen, als wir mit dem Flugzeug aus von Istanbul ankamen und später als wir einen Ausflug nach Maçka machten. Etwa 50 Kilometer Fahrt lag vor uns, anfangs auf der holprigen Piste vom Dorf nach Sürmene. Dann noch einmal circa 40 Kilometer auf einer recht gut ausgebauten Straße, die immer am Meer entlangführte. Hier in Deutschland würden wir Bundesstraße zu der Straße sagen. Inzwischen wurde die Fahrt nach Trabzon sehr erleichtert. Eine große Autobahn wurde gebaut, die immer an der Schwarzmeerküste entlang in Richtung Osten führt.
Wir mussten durch einige Orte, wie Arakli, die nächste Stadt nach Sürmene, hindurchfahren. Jeder hatte seinen eigenen Reiz, ich konnte mich daran kaum sattsehen. Endlich sah man von Weiten die Distrikthauptstadt Trabzon. Rechts konnte man die Landebahn des Flughafens sehen. Mit Erstaunen stellte ich fest, wie nah ans Meer die Landebahn reichte. Nicht auszudenken, wenn der Pilot die Bremse nicht findet. Weiter links konnte man die Berge sehen. Welch ein Anblick, einfach herrlich.
In der Stadt herrschte reges Getümmel, Menschen und Autos verstopften die Straßen. Um sich da hindurch zu drängeln, benötigte man viel Nerven. Endlich fanden wir einen Parkplatz. Gespannt lief ich neben meinen beiden Begleitern her. Ich hatte meine Blicke überall, sodass ich öfters einige Mühe hatte, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Es gab viel zu bestaunen, vor allem die Schmuckläden zogen mich magisch an – ja, ich bin eine Frau Elster. So viel Gold hatte ich noch nie an einem Ort gesehen. Doch etwas anderes reizte mich nun noch mehr als Schmuck. Ich hatte einen Buchladen entdeckt.
„Gehen wir mal rein?“, fragte ich meinen Freund. Er wusste von meiner Vorliebe zu Büchern, belächelte aber immer wieder mein Hobby.
„Ob du da was für dich finden wirst, ist fraglich. Aber wenn du willst, gehen wir hinein“, antwortete er. Er blickte sich nach seinem Bruder um, der uns heute begleitete, und übersetzte ihm meinem Wunsch.
Aufmerksam lief ich durch die Regalreihen, in denen Unmengen von Büchern zum Verkauf angeboten wurden. Dass die meisten in Türkisch geschrieben waren, störte mich nicht. Ich konnte diese Sprache zwar noch nicht lesen, aber das machte mir nichts aus. Schon ein Buch in der Hand zu halten, war für mich ein Erlebnis. Immer einen Schritt hinter mir mein Schwager Senol, der versuchte, mir zu erklären, was in dem Buch, das ich gerade in der Hand hielt, stand. Ich verstand natürlich wieder einmal nur Bahnhof.
Mein nächstes Ziel war ein großer Tisch, der in der Mitte des Verkaufsraumes stand. Ein Buch darauf erregte meine Neugier ganz besonders. Arabische Schriftzeichen zierten den Deckel.
„Koran“, sagte mein Schwager nur, als er meine fragenden Blicke bemerkte.
Koran, ja okay, davon hatte ich schon einmal etwas gehört. Nur damit befasst hatte ich mich noch nie. Ich nahm eines der Bücher und schlug es auf. Unheimlich viele arabische Schriftzeichen sprangen mir regelrecht entgegen. Lesen konnte ich sie nicht.
Mein Schwager grinste nur, sagte aber nichts.
Ich schaute mich weiter in dem riesigen Stapel um. Ein anderer Koran stach mir ins Auge – nein, er hat mich nicht verletzt – ich sollte wohl besser sagen, erregte meine Neugier.
Beinahe andächtig nahm ich das Buch in die Hand und schlug es auf. Schon beim ersten Blick hinein verschlug es mir die Sprache. Deutsche Buchstaben standen darin. Ich rief meinen Freund.
„Schau mal, ein Koran in Deutsch“, sagte ich zu ihm. „Das ist ja Wahnsinn.“ Ich war voll aus dem Häuschen. „Den kaufe ich mir.“
Mein Freund übersetzte seinen Bruder wieder, der sogleich noch mehr anfing zu grinsen. Als ich bezahlen wollte, nahm er mir das Buch aus der Hand.
„Du nicht, ich bezahle“, übersetzte nun mir mein Freund die türkischen Worte.
So hatte ich an diesem Tag ein wirklich für mich großes Erfolgserlebnis. Nicht, dass ich als sehr gläubig verstanden werde. Nein, eher das Gegenteil. Ich wurde ganz anders erzogen. Ein Moslem würde Ungläubige zu mir sagen. Doch interessierte mich die fremde Kultur, damit auch der Glauben sehr.
Der Tag in Trabzon ging viel zu schnell zu Ende. Am liebsten wäre ich noch länger geblieben. Wir hatten noch längst nicht alles gesehen. Doch wir mussten zurück, ehe es gänzlich dunkel sein würde. Die Fahrt nach oben ins Dorf war schon bei Tage beschwerlich, nachts würde es noch beschwerlicher sein.
Im Dorf angekommen, war es gerade Zeit zum Abendessen. Alle hatten sich in der kleinen Küche versammelt, in welcher der Ofen eine heimelige Wärme verstrahlte. Schwiegervater bat uns zu Tisch. Am liebsten hätte ich ihm meinen Fund sofort gezeigt, doch ich musste mich damit noch bis nach dem Essen gedulden. Man musste rein sein, wenn man den Koran berühren wollte.
Nach dem Essen hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging mir die Hände waschen, wie es mir mein Freund erklärt hatte, ehe ich das heilige Buch berühre. Voller Stolz packte ich es aus und zeigte es meinem Schwiegervater.
Er schlug es auf und sah hinein. Vom Einband her hatte er schon erkannt, worum es sich handelte. Doch einen Koran in deutscher Sprache hatte er nicht erwartet.
„Oh“, sagte er nur und blickte mich an. Er gab mir das Buch zurück.
Ich setzte mich auf den Boden und schlug es auf.
„Nicht auf den Fußboden legen“, wurde ich von meinem Freund belehrt. So hob ich es noch ein wenig weiter an, auch, um besser die Schrift lesen zu können. Gespannt las ich Sure für Sure. Ungewohnte Worte sprangen mir entgegen, auch Worte, die ich nicht verstand. Doch die Neugier war größer als mein Unverständnis.
Noch heute habe ich diesen Koran in meinem Besitz. Ich behüte ihn wie einen Augapfel. Inzwischen habe ich sogar einen in nur arabischer Sprache. Lesen kann ich das nicht, aber das macht mir nichts aus.
© Milly B. / 16.07.2013