Es war Herbst 1995 und ich 27 Jahre alt. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich eine Auslandsreise machen, und das auch noch in ein moslemisch geprägtes Land am geschätzten anderen Ende der Welt. Na ja, Asien ist zwar nicht ganz das Ende der Welt, aber weit weg von zu Hause. Doch war ich mir sicher, das richtige zu tun, obwohl ich mir eigentlich gar nicht sicher war, was mich dort erwarten würde. Ein fremdes Land, eine noch fremdere Kultur, in die ich sozusagen einfach hineingestoßen wurde. Mein Freund, mit dem ich seit zwei Jahren zusammen war und der türkischer Staatsbürger war, wollte mich seiner Familie vorstellen. Er hatte vor, das gleichzeitig mit einem Kurzurlaub bei der Familie zu verbinden.
„Sag das nochmal! Wo willst du hin?“, schrie mich meine Mutter fast hysterisch an. Sie schaute mich an, als wäre ich ein Alien. Ihr Gesicht war kreidebleich und die Augen waren weit aufgerissen.
„Na, in die Türkei, Urlaub machen. Bei seinen Eltern. Nur eine Woche. Aber besser als gar nichts“, erklärte ich ihr nun schon zum dritten Mal. „Ich freu mich schon drauf.“
„Kann es sein, dass du einen an der Klatsche hast“, fauchte mich meine Mutter an. „Was ist, wenn er dir deinen Pass wegnimmt und dich dort lässt? Man hört so viel von solchen Dingen. Denk doch mal dran, wo er dich mit hinnehmen will. Wer weiß, wo das ist. Irgendwo am Ende der Welt.“
Ich lachte laut auf.
„Wer erzählt denn solche Ammenmärchen? Und wenn, ich komm schon wieder. Ich hab hier auch meine Leute, die wissen, wo sie mich suchen müssen. Mach dir da mal keine Gedanken drüber. Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird“, versuchte ich meiner besorgten Mutter zu erklären.
Ein wenig verstehen konnte ich sie schon. Eltern, insbesondere Mütter machten sich immer Sorgen um ihre Kinder, auch wenn diese schon, wie ich erwachsen waren und längst auf eigenen Beinen standen.
Mein Dad, der eben in die Küche gekommen war, wo ich mit meiner Mutter debattierte, schüttelte auch nur verständnislos den Kopf.
„Große, du bist wahnsinnig und verrückt auch noch“, sagte er nur. Ansonsten enthielt er sich der Stimme.
Nur meine Mutter sah mich traurig an. Sagen tat sie nun allerdings nichts mehr. Doch, so wie ich sie kannte, würde sie sich ihren Teil denken. Aufhalten konnte sie mich sowieso nicht, wenn ich mir einmal was in den Kopf gesetzt hatte. Das müsste sie eigentlich wissen, dass Löwe-Mädchen ihren eigenen Kopf haben und nur selten von etwas abzubringen sind, wenn sie einmal von was überzeugt waren. Mein Dad war auch nicht viel anders, allerdings mehr Sturkopf … Steinbock eben, wie meine Mutter selbst auch.
Zwei Wochen später, Flughafen Stuttgart
Isy fuhr uns mit dem Auto von Backnang, wo wir bei Isys Eltern übernachtet hatten, die auch Tante und Onkel meines Freundes waren, zum Flughafen. Ich war aufgeregt. Es war mein immerhin erster Flug, der da so kurz bevorstand. Unruhig lief ich vor der großen Scheibe hin und her und beobachtete die Flugzeuge, die fast im Minutentakt starteten und landeten. Nicht mehr lange und ich würde selbst in so einem Ungetüm sitzen und gen Türkei, besser gesagt, erst einmal gen Istanbul fliegen.
Es war soweit, unser Flug wurde aufgerufen. Wir begaben uns zum Ausgang, wo wir nochmal unsere Bordkarten vorzeigen mussten. Meine Aufregung stieg noch mehr. Bald würden wir in der Luft sein, ich konnte es mir noch gar nicht vorstellen.
Von nun an ging es schnell. Plötzlich saß ich im Flugzeug, auch noch ein Fensterplatz. Und schon brummte es gewaltig, die große Maschine setzte sich in Bewegung. Noch ein riesiger Schub, mit dem ich in den Sitz gepresst wurde und schon waren wir in der Luft.
In meinem Magen grummelte es. Ob es nun die Aufregung war, die ihn rebellieren ließ oder die ungewohnte Flugsituation, kann ich jetzt nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls war es unheimlich aufregend, so durch die Luft zu fliegen, als hätte man gar kein Gewicht. Ganz weit unten sah ich Autos, Züge, alles, was es auf der Erde so gab, halt nur ganz winzig klein.
Zweieinhalb Flugstunden standen uns nun bevor, die für mich dann eher langweilig wurden. Es gab noch was zu essen, das ich für undefinierbar hielt. Über den Wolken war wohl alles anders, auch das Essen.
Istanbul wurde auch ohne Probleme erreicht. Die Landung war der Horror für mich. Scheußliches Quietschen, gepaart mit erneuten in den Sitz gepresst werden und gleichzeitigen krampfhaften Versuchen, den Mageninhalt da zu behalten, wo er hingehörte und nicht raus zu kotzen, war alles eins. Ich war heilfroh, endlich wieder heil Boden unter den Füßen zu haben. Mit Grausen dachte ich daran, dass mir dasselbe in ein paar Stunden nochmals bevorstehen würde.
Fremde Gerüche, geschätzte Millionen von Menschen um mich herum, und das alles in nur einem Flughafen. Wie groß der Internationale Flughafen Atatürk in Istanbul wirklich ist, war mir erst Jahre später so richtig bewusst geworden. – Doch davon erst später.
Es wurde Zeit, zum Abfluggate zu gehen. Dasselbe Prozedere wie in Stuttgart nochmal von vorne. Kontrollen über Kontrollen, diesmal nur alles in Türkisch und sehr penibel. Ich als einzige Deutsche inmitten eines ganzen Flugzeuges voll türkischer sprechender Menschen und fremden Gerüchen. Es gab hitzige Diskussionen, wovon ich kein einziges Wort verstand. Wahrscheinlich ging es um Handgepäckinhalte, die unbedingt mitmussten, aber nicht durften.
Die Ankunft in Trabzon war genau so aufregend, nein, sogar noch aufregender als die in Istanbul. Mein Pass wurde bestaunt, ich wusste nicht warum, verstand mal wieder nur Bahnhof. Mein Freund erklärte den Beamten, warum in meinem Pass nicht die Namen der Eltern stehen. In Deutschland wäre das ganz anders als in der Türkei. Wahrscheinlich hatten die noch nie einen deutschen Pass gesehen. Endlich, nach geschätzten 1000 Stunden temperamentvoller Debatten, konnten wir gehen. Ich war heilfroh, endlich an die frische Luft zu kommen.
Draußen erwarteten uns zwei junge Männer. Irgendwie kam mir der eine bekannt vor, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Isys Bruder, wurde mir vorgestellt. Und – welch Freude – er sprach deutsch, zwar nicht besonders gut, aber immerhin. Er wäre in Deutschland geboren und würde erst seit ein paar Jahren hier leben, erklärte er mir. Der andere, so sagte er, wäre der Bruder meines Freundes. Also Schwager - noch nicht ganz, aber immerhin – okay, alles verstanden. Er nannte mich Yenge**, was immer das bedeuten sollte und plapperte auf mich ein. Wieder verstand ich nur Bahnhof und alles lachte. Na ja, was solls, irgendwann kann ich die Sprache auch mal, dachte ich mir und machte gute Miene zu bösem Spiel.
Wir wurden alle in ein uralt aussehendes Auto verfrachtet. Ich hatte schon Angst, das Ding fällt auseinander, so klapprig sah es aus. Wahrscheinlich wurde es nur noch vom Rost zusammengehalten. Doch siehe da, es fuhr sogar. Irgendwie erinnerte mich das Ding an unseren damaligen Trabbi zu DDR-Zeiten.
„Na Birgit***, wie gefällt dir die Türkei“, sprach mich Isys Bruder plötzlich an.
Ich schaute ihn ein wenig komisch an. Birgit? Hä? Seit wann heiße ich Birgit?
„Wann sollte ich was gesehen haben? Es ist stockdunkel draußen“, war meine Antwort, worauf er lachte und meinte, ich hätte recht.
Damit war die Angelegenheit erst einmal geklärt.
Der Hammer des Tages kam allerdings noch. Daran erinnere ich mich, als wäre es erst gestern gewesen.
Übernachten sollten wir bei Isys Bruder. Die Fahrt auf den Berg, wie ich seit damals immer sagte, wäre zu gefährlich. Deshalb lieber die Fahrt nach oben am Tag. Wie die Straße dort hinauf war, konnte ich noch nicht ahnen. Doch sie war schlimmer, als ich es mir in meinen schlimmsten Träumen vorgestellt hatte.
Irfans Wohnung, so hieß dieser Cousin, der uns mit vom Flughafen abgeholt hatte, war recht europäisch eingerichtet, gar nicht so, wie ich es von den Türken, die ich bisher in Deutschland besucht hatte, gewohnt war. Es fehlte zwar die Frau im Haus. Jedoch merkte man es nicht einmal. Eines hatte ich, außer den vielen Räumen in der für mich riesigen Wohnung noch nicht gesehen – die Toilette. Dass ich mal dorthin müsste, spätestens wenn es zu Bett gehen sollte, war mir klar. Also würde ich diese Örtlichkeit an diesem Abend auch noch kennenlernen. So fragte ich auch erst einmal nicht danach.
Es wurde Zeit, ins Bett zu gehen.
„Musst du nicht aufs Klo?“, wurde ich gefragt.
„Nicht unbedingt, aber es ist vielleicht besser, so muss ich nachts nicht raus“, antwortete ich.
Die beiden Männer, der Bruder meines Freundes war inzwischen schon nach Hause gefahren, standen wie auf Kommando auf und gingen vor mir her zu dieser Örtlichkeit. Schade war nur, dass ich mein eigenes Gesicht beim Anblick dieses angeblichen Klos nicht selber sehen konnte. Jedenfalls brachen die beiden Männer in ein fürchterliches Gelächter aus, als ich schockiert auf dieses Ding, was da in diesem winzigen Raum in den Boden eingelassen worden war, darauf zeigte und stotternd fragte:
„Was ist das denn?“
„Ein Klo“, kam im Duett von den beiden.
Wie ich da mein Geschäft verrichten sollte, war mir unklar. Fragend blickte ich die beiden an.
„Ganz einfach“, wurde mir erklärt. „Hock dich einfach mit dem Po über dieses Loch und fertig.“
Na gut, schlecht war das vielleicht nicht. Es roch nicht so, wie ich es bei so einem komischen Ding erwartet hatte. Plumpsklos von früher rochen viel schlimmer, vor allem im Sommer ... Aber lassen wir das lieber - würg. Der Boden und sogar die Wände waren gefliest dieses sehr eigenartigen Klos und es war sehr sauber. Auf alle Fälle um Welten besser als manche öffentlichen Toiletten in Deutschland.
Ach du liebe Scheiße, wenn das mal gut geht, dachte ich nur, als ich dann zum ersten Mal versuchte, erfolgreich mein Geschäft zu erledigen. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier, musste ich feststellen. Inzwischen war es mir unterwegs lieber, so eine Toilette benutzen zu können.
Toilettenpapier gab es allerdings keines, nur kaltes Wasser aus Wand. Zum Glück hatte ich Tempotaschentücher mit dabei. Not macht halt erfinderisch. – Das sollte ich in der nächsten Zeit noch mehrmals erfahren.
***
* Türkiye, ben geliyorum - Türkei, ich komme
** Schwägerin – sagt man in der Türkei zu Frauen, die älter als man selbst ist, das müssen allerdings nicht unbedingt verwandte Frauen sein
*** So sagten Tante und Onkel, sowie alle derer Kinder immer zu mir, an meinen richtigen Namen konnten sie sich nie gewöhnen. Ich blieb immer Birgit
© Milly B. / 21.05.2012