„Ich bin allein an dem Ort, an dem wir uns das erste Mal geküsst haben“, denke ich mir und versuche die herzzerreißenden Gedanken an dich zu verdrängen. Was tue ich eigentlich hier? Warum nur musste ich hierherkommen, wo die Gefühle auf mich herunterstürzen wie ein Wasserfall über die Klippen. Die mich überschwemmen und kaum zu Atem kommen lassen.
Nun bin ich aber hier und muss diese eigenartigen, mich ängstigenden Dinge fühlen, die ich eigentlich gar nicht mehr fühlen wollte. Gerade heute, an deinem Geburtstag, tut immer es noch weh, wenn ich an dich denken muss. Aber nach all den Jahren ist es nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Der Schmerz vergeht im Laufe der Zeit, aber die Erinnerung bleibt. Du bist fort und wirst nie wiederkommen. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder… im Himmel, oder in der Hölle. Wer weiß schon, ob es ein Leben nach dem Tode gibt.
Ich erinnere mich noch, wie es dazu kam, als wir uns das erste Mal geküsst haben. Eigentlich warst du es, der küsste. Du hattest mich überrumpelt und meinen Schreck gnadenlos ausgenutzt. Obwohl ich wusste, du bist ein Filou und lässt nichts anbrennen, ließ ich mich auf dich ein. Jedoch bereue ich nichts.
Doch wenn ich mich richtig erinnere, war dies gar nicht unser erster Kuss. Der fand nur wenige Stunden vorher statt. Mitten auf dem Fußweg vor meinem Hotel, wo du mich abholtest. Für mich war es aber nur ein Begrüßungskuss auf die Wange. Der gilt nicht. Er war eher scheu, ganz normal für Menschen, die sich gerade erst richtig kennenlernen.
Aber dann, unser erster Kuss, der hatte es in sich. Obwohl ich nicht gerade unbedarft war, immerhin strebte ich bereits dem Mittelalter zu, war ich, wie soll ich es sagen, erstaunt, dass du gleich am ersten Tag so auf Tuchfühlung gingst. Du zeigtest mir dein Haus. Nicht ohne Stolz, wie ich erkennen konnte. Es gefiel mir, was ich sah. Doch ich sah nicht nur dein Haus, sondern auch dich.
Wir befanden uns im kleinen Flur im Obergeschoss, der zu deinem Schlafzimmer führte. Der Gang war eng, gerade so breit, dass eine erwachsene Person bequem hindurch gehen konnte. Im Schlafzimmer fühlte ich mich nicht besonders wohl. Immerhin war es der intimste Raum eines mir noch fast unbekannten Mannes. Ein breites Doppelbett und dahinter eine Wand voll mit Büchern dominierte den kleinen Raum. Ich registrierte es, wollte aber nur raus, ein wenig Abstand gewinnen. Du warst mir auf einmal viel zu nah. Das wollte ich keinesfalls zulassen.
Wahrscheinlich hattest du meine leichte Scheu bemerkt und ließest mich gehen. Doch im Flur holtest du mich ein und nahmst mich in den Arm. Der Schelm blitzte aus deinen rehbraunen Augen. Ich erinnere mich noch genau, wie du mich anschautest. Ein leichtes Lächeln umspielte deinen Mund. Du warst dich deines Sieges bewusst. Zu bewusst, dachte ich mir damals.
Dein Gesicht kam dem meinigen näher. Unsere Nasen berührten sich beinahe. Wir blickten uns in die Augen. Anfänglich zuckte ich erschrocken zurück, als deine Lippen auf meine trafen. Was dachte ich mir eigentlich? Dass du es nicht wagen würdest, die letzte Schwelle zu übertreten? Doch dann ließ ich es zu, dass du vorgeprescht bist wie ein Krieger, der den Gegner überrennen musste, um zu überleben.
Als deine Zunge sich zwischen meine Lippen drängte und in meinen Mund eindrang, durchzog mich ein wohliger Schauer. Du konntest küssen wie ein Engel. Ich vergaß alles um mich herum, auch den mir noch fremden Ort. Die plötzlich aufkommende Hitze in meinem Inneren genoss ich mit jeder Faser meines Körpers. Wie lange schon fühlte ich mich schon nicht mehr so wohl in den Armen eines Mannes?
Wir lösten uns lange nicht voneinander. Aber als wir es dann doch taten, schautest du mich erneut an, mit diesem verdächtigen Blitzen in deinen Augen. „Ich konnte nicht anders, als dich zu küssen. Es war zu verlockend“, sagtest du nach einer Weile schmunzelnd zu mir.
Ich nickte nur, dabei leicht errötend wie ein Teenager. Das war der Beginn von allem… anfangs von einer wunderbaren Freundschaft, später einer innigen Liebe.
© Milly B. / 09.09.2018