Es ist nicht so, dass unser Leben immer normal verläuft. Aber was ist normal und was nicht? Wer bestimmt das? Ich nicht! Ich finde es vollkommen normal, in der Familie eine oder mehrere Personen zu haben, die nicht so können, wie sie gerne wollen. Ich benutze extra das Wort „behindert“ nicht, da es für mich abwertend ist, eine Person als behindert zu bezeichnen. Das Wort „invalidus“ – auf Deutsch aus dem Lateinischen „invalid“ finde ich viel zutreffender.
Außerdem kann es einer Person nicht immer angesehen werden, dass sie nicht so kann, wie sie gerne wöllte. Es gibt so viele unterschiedliche Formen, dass es den Rahmen dieser Geschichte sprengen würde, sie alle aufzuzählen. Eigentlich sollte auch gesagt werden, jede Krankheit, egal welchen Ausmaßes, könnte als Behinderung angesehen werden. Hat man Grippe, behindert einem das bei der alltäglichen Arbeit. Ein steifes Bein zum Beispiel macht es unmöglich, schnell zu rennen. Die Liste könnte ich noch ewig lang weiterführen, ich käme nie zum Ende.
Als ich noch ein Kind war, ich stand kurz davor, 10 Jahre alt zu werden, erkrankte meine Mutter sehr schwer. Keiner wusste so richtig, was ihr fehlte. Über vier Monate musste sie im Krankenhaus verbringen.
Als meine Mutter endlich nach Hause durfte, war nichts mehr wie vorher. Sie konnte kaum laufen, fast nicht sprechen, arbeiten erst recht nicht mehr. Sogar das Schreiben musste sie neu lernen – dieses Mal mit links.
Endlich erfuhr ich, was ihr fehlte. Sie erlitt einen schweren Schlaganfall, den sie beinahe nicht überlebt hätte und der ihre rechte Körperseite gelähmt zurückließ. Ein Schock für mich. Doch das wichtigste war, meine Mutter hatte überlebt. Sich mit diesem Schicksal abzufinden, war nicht leicht. Sie war doch erst 34 Jahre, eine junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte.
Seitdem hat sich viel verändert. Meine und die Kindheit meines drei Jahre jüngeren Bruders war von jetzt auf gleich vorbei. Ich musste mich um den Haushalt kümmern, kochen, waschen, putzen – dazu ein großer Bauernhof mit Vieh und großem Garten. Gut, dass es noch rüstige Großeltern gab, die sich auch kümmern konnten. Mein Vater ging weiterhin normal zur Arbeit, musste er auch, von was sollten wir sonst leben.
Ein langer Kampf stand uns bevor, der bis heute andauert. Dabei hat sich im Laufe der Jahre der Gesundheitszustand meiner Mutter weitestgehend gebessert. Sie lernte wieder laufen, sie spricht, manchmal mit Holpern. Die richtigen Worte zu finden, ist ab und an ein Problem, vor allem, wenn sie aufgeregt ist. Es wurde zwar nie wieder wie vorher, aber alles ist besser als sie nicht mehr unter uns zu haben.
Seit einem Jahr kommt regelmäßig ein Physiotherapeut ins Haus, macht Übungen mit ihr. Inzwischen sitzt sie zwar im Rollstuhl und kommt zu Fuß nur schlecht von A nach B, aber damit kann sie leben. Zum Glück verlor sie nie die Freude am Leben. Sonst wäre meine geliebte Mutter bestimmt nicht mehr unter uns.
Vor meinem Vater ziehe ich jeden Tag aufs Neue den Hut. Allen Unkenrufen zum Trotz, hat er meine Mutter die ganzen Jahre unterstützt und niemals allein gelassen. Das rechne ich ihm hoch an.
Es war nie einfach. Doch wir haben es geschafft – gemeinsam – seit 1978.
© Milly B. / 16.05.2021