Zum Gedenken an meinem Cousin Patrick
15.08.1985 – 19.11.2019
Lieber Paddy,
Du wirst Dich nicht mehr daran erinnern können. Dazu warst Du noch viel zu klein. Du warst zwei Jahre alt. Ein gesunder, aufgeweckter Junge. Für mich aber ist es, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei sind es bereits knapp 33 Jahre her. Für manche ein Menschenleben, für mich nur ein winziger Augenblick.
Damals war ich schwanger mit meinem ältesten Sohn. Ich war müde von der Arbeit und wollte mich nur noch ausruhen, die Beine hochlegen und den lieben Gott einen frommen Mann sein lassen. Doch vier kleine Füßchen, die trappelnd wie eine Herde Pferde über den langen, mit Holzdielen belegten Flur liefen, hielten mich davon ab. Ich war ein wenig genervt, doch verbieten wollte ich es auch nicht. Es waren Kinder, voller Übermut und Freude, solche Geräusche machen zu können. Zwei Kinder, die geliebt wurden von allen, die sie umgaben.
Deine Mutter war mit Dir und Deiner Zwillingsschwester bei meiner Mutter zu Besuch. Ich lebte damals noch in meinem Elternhaus. Zwar in einer eigenen Wohnung, aber hatten meine Eltern Besuch, hatte ich auch welchen. Daran ging kein Weg vorbei.
Ich war hin und weg von Euch kleinen Wesen, die nur geknuddelt werden und mit Liebe überschüttet werden konnten. Dabei war es gerade mal zwei Jahre her, als Du mit Deiner Schwester, eben auf die Welt gekommen, gemeinsam im Kinderbettchen gelegen hast, süß und selig schlummernd. Das Bild werde ich nie vergessen. Der süße Babygeruch, den eigenartigerweise jeder Säugling an sich hat. Die nuckelnden Mündchen, die rosigen kleinen Wangen. Ein Bild für die Götter. Wie schnell die Zeit vergeht.
Ich weiß nicht, warum ich mich gerade jetzt an diese Episode erinnern muss. Eine melancholische Phase, wie ich sie ab und an mal habe. Oder auch nur, da ich fast täglich schmerzlich an Dich erinnert werde. Jeden Tag, auf dem Weg zur und von der Arbeit. Ich sehe die Blumen am Straßenrand, die kleinen Geschenke, die Kerzen, die leider längst erloschen sind, so wie Du. An manchen Tagen kann ich den Anblick der kleinen Gedenkstätte ertragen, da fahre ich dort vorüber, sehe sie mir an und muss an Dich denken. An anderen wieder möchte ich nur schreien. Dann muss ich einen anderen Weg nehmen, um den Anblick des Unglücksortes nicht ertragen zu müssen. Wenn ich daran denke, dass ich mitten im Geschehen gewesen wäre, hätte ich nicht gerade an diesem Tag Urlaub gehabt, wird mir übel. Dich so zu sehen, inmitten der Trümmer Deines Autos, oder inmitten der Ärzte und Sanitäter, die um Dein Leben kämpfen, wäre nicht zu ertragen gewesen.
Dabei gibt es keineswegs nur schmerzliche Erinnerungen an Dich, sondern auch sehr viele schöne und auch solche, über die ich schmunzeln kann. Wie gerne hätte ich mein eigenes Gesicht gesehen, als Du mich eines Tages Tante nanntest. Nachdem ich Dich aufgeklärt hatte, ich wäre Deine Cousine und nicht Deine Tante, warst Du wahrscheinlich genauso perplex.
Leider war es uns nicht vergönnt, uns öfter zu sehen. Die Zeit verging wie im Fluge. Kaum warst Du geboren, konntest laufen, kamst in die Schule, schon warst Du erwachsen und gingst Deinen eigenen Weg. 17 Jahre Altersunterschied sind wohl doch eine zu große Zeitspanne, um gemeinsam als Spielgefährten, Cousin und Cousine aufzuwachsen. Dabei warst Du mir immer nah, im Herzen, denn da gehörst Du hin. In diesem Sinne erinnere ich mich an einen Spruch, der ausreicht, um alles zu sagen: Wer im Herzen eines Menschen bleibt, ist nicht tot, sondern lebt weiter. Vergessen und tot ist nur der, dessen Platz im Herzen seiner Lieben leer geworden ist.
Allerdings wird bei Dir jetzt noch die Frage aufgekommen sein, warum ich Dich in diesem Brief Paddy nenne. Diese Frage kann ich Dir leider nicht beantworten. Niemand nannte Dich so. Nur ich, in meinem Kopf. Ein Kosename, den wohl jeder hat. Es kam einfach so, von Jetzt auf Gleich, wie aus heiterem Himmel.
Lieber Paddy, manchmal wünsche ich mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Auch deswegen, um noch Dinge sagen zu können, die ich versäumt habe, zu sagen. Im Nachhinein mache ich mir Vorwürfe deswegen. Aber ich weiß, es hat nicht sein sollen. Eine höhere Macht war dagegen, riss Dich aus unserer Mitte und Dich mitten aus Deinem noch jungen Leben. Doch eins kann ich Dir sagen, auch wenn Du es nicht mehr hören kannst: Du wirst immer in meiner Erinnerung bleiben und in meinem Herzen. Eine winzig kleine Hoffnung habe ich trotzdem noch, dass meine Gedanken zu Dir schweben und Dich dort erreichen, wo immer Du jetzt sein magst. – Irgendwo im Nirgendwo!
Deine Cousine Brit
© Milly B. / 15.02.2020