Ist man mal im Urlaub bei der Verwandtschaft, muss natürlich auch jeder besucht werden, ob man will oder nicht. Vergisst man mal einen, fühlt sich derjenige prompt fast tödlich beleidigt.
Diesmal stand ein Besuch bei so Jemanden an. Fragt mich aber bitte nicht, wo genau das war. Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir ewig lange mit dem Auto fahren mussten und es immer bergauf ging. Den Ort wiederzufinden? Für mich damals ein Ding der Unmöglichkeit.
Dieses Mal war zum Glück der Wagen, mit dem wir fuhren, etwas bequemer. Ein Kartal der Marke Tofaş*, einer türkischen Automarke, deren Produktion inzwischen eingestellt wurde. In meinen Augen war es zwar eine Schrottkiste, aber besser als gar nichts. In Sachen Bequemlichkeit ähnelt dieses Gefährt dem Trabant aus DDR-Zeiten. Besser fahren tut es auch nicht, eher das Gegenteil. Nur fliegen ist schöner. Ich habe ich es sogar gewagt, dieses sogenannte Auto zu steuern. Dazu jedoch erst später.
Irgendwann kamen wir an. Es lag schon Schnee. Dabei war es erst Ende Oktober. Also musste es recht weit oben gewesen sein. Aber wie es als Frau so ist, man hat meist das falsche Schuhwerk an. Halbschuhe, und das im etwa einen halben Meter hoch liegenden Schnee. Dann blieb auch noch das Auto in einer Schneewehe stecken und wir mussten es wieder flottbekommen. Mit viel Gelächter und geballter Kraft schafften wir das auch. Nasse Füße waren dabei zwar vorprogrammiert, störten uns aber nicht besonders. Es ging ja gleich ins Warme, wo wir uns trocknen konnten.
Die Häuser in diesem Dorf sahen gar nicht aus wie türkische Häuser in den anderen Dörfern, die ich bisher gesehen hatte. Die sind griechischen Ursprungs, wurde mir erklärt. Die dicken Steinwände der Häuser sorgten im Winter dafür, dass die Wärme auch da blieb, wo sie gebraucht wurde und im Sommer hielten sie schöne Kühle im Inneren.
Die Aussicht dort oben war jedoch herrlich. Rings herum sah man hohe Berge, die um diese Jahreszeit bereits schneebedeckt waren. Weithin erstreckten sich dicht mit europäisch anmutenden Nadelhölzern bewaldete Täler. Es sah ganz anders aus, als bei den Eltern meines Freundes, wo die Wälder fast nur aus Laubbäumen bestanden. Obwohl es von dort nicht sehr weit entfernt war, wirkte die Landschaft völlig anders. Nur, was ist weit entfernt? Ich denke, es waren so etwa 30km, die wir zurücklegen mussten, bis wir hier ankamen. Dafür brauchten wir allerdings fast zwei Stunden. 30km in zwei Stunden, ist für die Verhältnisse in Deutschland ein Pappenstiel. Aber nicht in den Bergen der Türkei. Die Straßen konnte man hier eigentlich gar nicht als solche bezeichnen kann. Eher Feldwege, holprig, eng, gefährlich. Angsthasen sollten es lieber lassen, dort ein Fahrzeug zu bewegen. Teilweise kam man schneller zu Fuß voran.
Es wurde ein lustiger Nachmittag bei den Leuten, die wir da besuchten. Ich verstand zwar wieder einmal nichts von dem, was sie redeten. Es ging aber sehr laut und vor allem sehr lustig zu. Wie so oft bei den Türken, war vor allem die Lautstärke beeindruckend. Im normalen Ton reden gibt es bei denen wohl nicht. Für unsere verwöhnten mitteleuropäischen Ohren hört sich das an, als würden sich die Leute streiten. Wenn man jedoch wie ich, Jahre später versteht, was da gesprochen wird, erkennt man, es ist keineswegs an dem.
Irgendwann wurde mir erklärt, wer die Leute, die wir besuchten überhaupt sind. Der Bruder vom Onkel**, wurde mir gesagt. Kenne sich da einer in der ganzen Verwandtschaft aus – ich schon gar nicht. Viel später wurde mir berichtet, die ganze Verwandtschaft mütterlicher- und väterlicherseits würde aus bestimmt 500 Personen bestehen. Muss man die alle kennen und vielleicht auch noch jeden mit Namen ansprechen können? Das ist wohl fast unmöglich.
Essen wurde natürlich auch aufgetischt. Frage nicht nach Sonnenschein. Solche Mengen, wie man dort essen muss, gehen auf keine Kuhhaut. Wieder einmal aß ich Dinge, die ich weder kannte, noch wusste, was es genau war. Ich war pappensatt und wie genudelt, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Aber ablehnen gehört sich aus Höflichkeit nicht. Damit würde man die Gastgeber beleidigen. Also muss man essen, bis es einem aus den Ohren herausquillt. Mit Schwarztee – dem in der Türkei so geliebten Çay, ist es nicht anders. Da muss man oft so viel davon trinken, zwar nur aus kleinen Gläsern, dass man nachts im Bett steht und munter, wie ein Fisch im Wasser ist.
Ich konnte mich nie daran gewöhnen, während meiner Besuche in der Türkei so viel essen zu müssen. Von je her bin ich es gewohnt, aufzuhören, wenn ich satt bin. Aber die Menschen da, Wahnsinn, die schaufeln solche Mengen in sich hinein, dass man nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Nach jedem Türkeibesuch habe ich fünf Kilo mehr auf die Waage gebracht. Wie die Türken das machen, ist mir auch heute noch rätselhaft, denn dicke Menschen gibt es keineswegs zu viele.
Genau so ist es mit Geschenken ablehnen. Oft genug habe ich aus meinen Urlauben Dinge mitgebracht, die ich zu Hause nie benutzte, wie zum Beispiel gehäkelte Waschlappen.
Mit diesem Besuch war ein weiterer Tag unserer Reise vergangen. Am Abend waren wir gesund und munter wieder oben auf unserem Berg zurück, wo nach dem allabendlichen Ritual des Koranlesens zu Bett gegangen wurde.
* Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Tofa%C5%9F
** Onkel wird fast zu jeder männlichen Person gesagt, egal, ob man mit ihm verwandt ist oder nicht.
© Milly B. / 05.07.2012