Da stand ich nun, einsam und verlassen auf dem Bürgersteig vor meinem Hotel, in einer Stadt weit entfernt von zu Hause. Die Menschen, die an mir vorüber gingen, beachtete ich nicht. Dazu war ich viel zu aufgeregt. Mein Herz klopfte, als würde es gleich aus meiner Brust springen wollen. Garantiert strahlte mein Gesicht rot wie ein Rücklicht am Auto, wie so oft, wenn ich aufgeregt war. Die Fußgänger liefen an mir vorüber, als wäre ich unsichtbar. Kein einziger mokierte, ich würde im Wege stehen.
Wohl zum tausendsten Mal blickte ich auf meine Armbanduhr. Gleich kommt er, dachte ich, während ich die Zeiger beobachtete, die Schritt für Schritt weiterrückten. Immer einem einzigen Ziel entgegen – der Ankunft des großen Unbekannten.
Obwohl, unbekannt kann man dazu eigentlich nicht sagen. Wir kannten uns bereits zwei Jahre. Das Internet war schuld, dass wir uns über den Weg liefen. Dabei habe ich mir nie vorstellen können, jemals einen Mann zu treffen, den ich im Internet kennengelernt hatte. Dazu war ich viel zu schüchtern, außerdem zu vorsichtig.
Ich reiste nach Aachen, ohne zu wissen, was mich erwartet. Wir hatten zwar schon oft telefoniert, vor allem, als er im Krankenhaus und später in der REHA war. Doch am Telefon kann man schlecht einen Menschen einschätzen. Oft sind Irrtümer vorprogrammiert. Ich hoffte sehr, diese Fehleinschätzungen machen einen weiten Bogen um mich.
Aus dem Augenwinkel sah ich gegenüber einen Stadtbus halten. Ein weiterer Blick auf meine Uhr sagte mir, es ist der Bus, mit dem mein Bekannter ankommen wollte.
Erneut beschleunigte sich mein Herzschlag, die Aufregung stieg ins Unermessliche. Am liebsten hätte ich mich in ein Mauseloch verkrochen. Doch das konnte ich nicht. Unmöglich konnte ich einfach gehen, ohne ihn kennengelernt zu haben, und er mich.
Was war, wenn ich ihm nicht gefiel? Wenn die Chemie nicht stimmte? Wir keinen gemeinsamen Nenner fanden? Fragen über Fragen, auf die ich hoffentlich eine Antwort bekommen sollte.
In meinem Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Mein Mund wurde trocken, als wäre ich stundenlang, ohne einen Tropfen Wasser, durch die Sahara geirrt.
Hoffentlich versagt meine Stimme nicht, waren meine nächsten Gedanken.
Der Bus fuhr ab. Leute, die wohl eben ausgestiegen waren, setzten ihren Weg fort. Endlich sah ich ihn. Er stand auf dem Gehsteig und schaute sich suchend um. Sein Blick fand mich. Ich sah ihn lächeln. Dann kam er über den Fußgängerüberweg herüber auf meine Straßenseite.
Er ist es, ging mir sofort durch den Kopf, während er zielstrebig auf mich zusteuerte. Angekommen, blieb er vor mir stehen, lächelte mich freundlich an.
„Hallo, hier bin ich“, begrüßte er mich.
„Schön, dass du da bist, Raoul“, antwortete ich mit etwas krächzender Stimme.
Wie aus heiterem Himmel war all meine Scheu verschwunden, alle Fragen beantwortet. Er ist es! – Mein Herz machte einen riesigen Sprung, dann küsste ich ihn einfach auf die Wange.
Sollte das der Beginn einer großen Liebe sein? Heute, acht Jahre nach seinem Tod, sage ich: Es war die große Liebe und die schönsten dreieinhalb Jahre, die ich je mit einem Mann verbracht habe.
© Milly B. / 19.04.2021