Es gab einmal Zeiten, da war ich viel schlanker als jetzt. Doch das ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Vergessen ist es trotzdem nicht. Manchmal denke ich schon noch etwas wehleidig daran zurück. Doch was vorbei ist, ist vorbei und kommt nicht wieder.
Schon als Kind war ich das, was man landläufig als Pummelchen bezeichnen konnte. Ich war größer als viele gleichaltrige Kinder, hatte aber auch dementsprechend mehr auf den Rippen. Kinder können grausam sein. Mich aber juckte es nicht die Bohne, wenn ich wegen meiner Figur gehänselt wurde. Ich konnte sehr böse zurück schlagen.
Meine Großmutter väterlicherseits sagte immer, wir hätten schwere Knochen. Ob das eigene Gewicht etwas mit der Knochenmasse eines Menschen zu tun hat, lassen wir mal einfach außen vor. Laut einer wichtigen wissenschaftlichen Studie soll das ja nicht sein. Also diskutieren wir lieber nicht darüber.
Meine Oma war auch eine recht imposante Frau. Mit einem Meter und achtzig Zentimetern Körpergröße und in guten Zeiten um die 130 Kilogramm, eine echte Wuchtbrumme. Aber von Schwabbel war da nichts zu sehen, alles Muskeln. Muskeln, die ich jetzt gerne hätte. Aber so, naja… schweigen wir uns darüber lieber aus.
Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal freiwillig gewogen habe. Die Waage ist mein ärgster Feind. Dabei wäre es gut, ab und an mal auf das verhasste Ding zu steigen, um sich unter Kontrolle zu halten. Ich sehe das Messgerät immer fies grinsen und mir zuflüstern: „Na du Schwabbel, wieder zu viel gefressen.“
Obwohl man bei mir von zu viel Essen nicht reden könnte. Meine Ernährung ist eigentlich recht ausgewogen. Wenn man die Fressattacken, die mich ab und an überkommen, mal ausgrenzt. Wo anderen bei Stress der Appetit vergeht, überkommt mich der Hunger und ich bin ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Gut gefüllte Kühlschränke sind vor mir nicht sicher, leckere Zartbitter- oder Nougatschokolade erst recht nicht. Am besten noch Zartbitterschokolade mit Pfefferminzfüllung, dafür verrate ich mein Vaterland.
Dabei sollte ich schon längst etwas gegen die Fressattacken und mein Übergewicht tun. Gut für den Körper ist meine Postur keinesfalls. Gesundheitlich muss man mit knapp fünfzig Jahren, die ich nun auf der Welt wandele, wohl schon mal was machen. Da zwickt es hier, da zwackt es dort. Knochen ächzen unter dem Gewicht, Füße werden platt getreten, der Blutdruck erreicht Höhen, über die manche Bergsteiger glücklich wären. Ich sollte mich vielleicht auch mal ein wenig mehr bewegen. Aber wenn der böse innere Schweinehund nicht wäre, der einem immer wieder ins Ohr flüstert: „Ach komm, morgen ist auch noch ein Tag. Was sind 120 Kilo bei 1,70 schon?“ Ob die 120 Kilo richtig sind, weiß ich nicht. Ihr wisst ja, die Waage ist mein ärgster Feind.
So wie es die schlechte Seite des Übergewichts gibt, gibt es auch eine Seite, über die man schmunzeln kann. Solange man selber drüber grinsen und den Leuten, die einen anstarren wie ein Alien, flotte Sprüche entgegenwerfen kann, ist die Psyche noch einigermaßen in Ordnung. Ob das so bleiben wird, steht wieder auf einem anderen Blatt.
Ich kenne viele Leute und nur sehr wenige, die mir bis jetzt über den Weg gelaufen sind, bleiben in meinem Gedächtnis. So wie diese junge Frau, die vom Leben arg gebeutelt worden war.
Wir lernten uns vor ein paar Jahren kennen. Sie war etwa einen Kopf größer, aber etwa 60 Kilogramm schwerer als ich. Dass sie mit ihrer Situation nicht besonders zufrieden war, ließ sie sich jedoch nicht anmerken. Doch wenn sie einem einen Blick hinter die Fassade erlaubte, erkannte man schon, dass es in ihr arg brodelte und sie sehr unzufrieden mit sich selbst war.
Wir zwei waren zwar keine wirklichen Freundinnen, verstanden uns aber aufgrund unserer Kilos, die wir durch die Gegend bewegen mussten, recht gut. So kam es auch, dass wir ab und an mal zusammen unterwegs waren, um zum Anziehen zu kaufen. Stellt Euch vor, zwei kleine Elefanten fallen in einen Klamottenladen ein und versuchen ein paar neue Teile zu ergattern, die man sonst in der Zeltabteilung des Baumarktes suchen muss. Kein leichtes Unterfangen. Außerdem leidet es sich gemeinsam besser als alleine. Nicht umsonst gibt es den Spruch „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“
Eines Tages beschlossen wir, dass wir mal wieder neue Jacken für den Winter bräuchten. Immerhin wollen kleine Elefanten im Winter auch nicht bibbern. Die haben zwar eine dicke Haut, doch nackt im Winter ist auch nicht gerade prickelnd. So schwebten wir in der Mittagspause in einem nahen Klamottenladen ein und steuerten den Kleiderständern mit Winterjacken entgegen. Dass wir darauf achten mussten, dass auch „Große Größen“ dran steht, ist wohl klar. Allerdings mussten wir feststellen, es gab verschiedene Meinungen zu den großen Größen. Wo fangen die an, wird sich so mancher fragen. Für dünne und zierliche Persönchen mag die schon bei der nächsten Kleidergröße beginnen, die selber getragen wird. Aber bei zweibeinigen kleinen Elefanten? Da streiten sich die Geister.
Mit geübtem Auge sahen wir uns die Auslage an. Es war schon einiges dabei, das unseren Mündern ein wohliges Seufzen entfleuchen ließ. Das Gefallen ist die eine Seite der Münze. Die zweite und noch sehr viel Wichtigere ist, passt das Ding auch und wie sehe ich da drin aus. Komme ich da auch ohne große Verrenkungen wieder heraus? Bleibt das edle Stück auch heil dabei? Also allen Mut zusammen genommen und angezogen.
„Dreh dich mal“, sagte meine Leidensgenossin. Eine Weile Ruhe, kein Wort, absolute Stille. Man hätte eine Mücke husten hören können. Dann ein Schmunzeln. „Nee, geht gar nicht. Du siehst aus wie ein Michelinmännchen.“
„Hä? Michelinmännchen?“
„Schau mal in den Spiegel“, sagte sie darauf, was ich natürlich tat.
Oh Schreck! Was ist das denn da für ein eigenartiges Gebilde, das mir da entgegenblickt. Das Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Doch der Rest? Eingehüllt, oder besser eingepresst in das Ding, das sich Winteranorak nannte, schaute mir jemand entgegen, der ich sein sollte. Ich wagte kaum Luft zu holen. Die Wurstpelle, die mich umgab, nahm mir beinahe den Atem. Also wieder raus aus dem Ungetüm und mutig wie ein Recke an das nächste Kleidungsstück.
Auch meine Freundin hatte endlich etwas gefunden, das ihr das Herz erweichen ließ. Doch leider waren auch hier gefallen und passen zwei verschiedene Schuhe. Geschockt musste ich ihr sagen „Ich glaube, wir sollten uns doch in der Zeltabteilung umschauen.“
„Ach menno“, schmollte sie und schälte sich aus der Jacke.
Ohne ein kleines Erfolgserlebnis wollten wir den Laden aber nicht verlassen. So wandten wir uns von den Jacken zu den Oberteilen, den richtig geilen, Ihr versteht? Ausschnitt bis zum Bauchnabel, der unser Holz vor der Hütt´n so richtig zur Geltung brachte, hauteng, absolut geil. Nun ja, aber auch da war die Ausbeute recht knapp bemessen. Was gefiel, da passten wir nicht mal mit einem Arm rein und das, was passte, sah aus wie Sack und Tüten. Einen Mehlsack überstülpen wäre wohl die bessere Variante gewesen. Doch die Laune wollten wir uns von dem Misserfolg auch nicht verderben lassen. Lachend und uns über uns selber lustig machend, kramten wir noch eine Weile bei den Übergrößen herum. Die Verkäuferin schaute uns schon genervt an, wenn wir mit dem nächsten Arm voll nicht passender Oberbekleidung aus der Umkleidekabine herauskamen. Die letztere war natürlich auch nicht gerade unseren Ausmaßen angepasst. Aber egal, wer Spaß haben will, muss auch leiden können. Und den Spaß hatten wir dann auch.
Es kam ein Paar in mittleren Jahren in den Laden. Der Mann sah zu uns herüber, ging aber ohne weitere Reaktion vorbei. Ganz anders die Frau, eine richtige Schnepfe war die. Eigentlich eine Beleidigung für den armen Vogel. Der kann nichts für seinen Namen. Die Nase rümpfend und abwertend schaute die Dame uns an und schüttelte mit dem Kopf. Sie tuschelte etwas von fetten Weibern, die sich schämen sollten, sich so zu benehmen und so auszusehen wie wir.
Gute Ohren hatten wir schon immer, wenn es um so etwas ging. Auf die Schnauze gefallen waren wir nicht. Wer dick ist, muss auch ein dickes Fell haben, und wer austeilt, muss auch einstecken können.
„Tja“, sagte meine Leidensgenossin auf einmal richtig laut, dass es alle im Laden hören konnten. „Sie haben ja so was von recht. Als kleiner Elefant hat man es wahrlich nicht leicht. Aber das Angebot in der Zeltabteilung hat leider nicht unseren Geschmack getroffen.“
Die Frau wurde bleich wie eine gekalkte Wand, der Unterkiefer klappte in Richtung Keller. Noch ein wenig mehr und sie wäre in Ohnmacht gefallen.
„Das hast du davon, wenn du andere immer anstarrst“, sagte ihr Ehegespons tadelnd zu ihr.
Lachend verließen wir den Laden, zwar ohne neue Jacken oder diverse geile Oberteile, dafür mit knurrendem Magen. Klamotten kaufen gehen macht auch kleine Elefanten hungrig.
„Bratwurst?“, fragte meine Freundin, worauf ich nur nickte und zielstrebig dem Bratwurststand entgegensteuerte.
© by Milly B. / 16.08.2017