Flüsternd strich der Abendwind durch die blattlosen Äste der verkümmerten Bäume. Rasselnd schabten die Äste übereinander, als würden heimtückische Hexen sich kichernd die dürren Finger reiben.
Die Weißen Wächter hatten ihre Beute in einem geschwärzten Tal inmitten des felsigen Waldes gestellt. Ihre schimmernden Rosse scharrten mit den Hufen und ihre weißen Hunde atmeten schwer. Die goldbesetzten Spitzen von Lanzen richteten sich auf den Mann in weiten Roben, der in der Mitte des Ringes stand.
Merkanto hob den Kopf zum Himmel. Keine Wolke war zu sehen, der er ein wenig Macht entkitzeln könnte.
„Gib auf, Magier!“, rief der Anführer der Wächter, ein weithin gefürchteter General namens Cailandros. Sein scharf geschnittenes Gesicht wurde von blondem Haar umrahmt. Er thronte wie eine Statue auf dem Rücken seines Pferdes.
Merkanto drehte sich im Kreis und suchte nach einem Ausweg, doch es gab keinen. Mit einem Seufzen ließ der Magier die Hände sinken und sah seinem Gegner in die Augen.
„Fesselt ihn“, befahl Cailandros. „Dann reiten wir zurück. Wir schlagen unser Lager auf der Ebene auf.“
„Wollt Ihr nicht im Schutz des Waldes lagern?“, fragte ein Mann, der neben Cailandros stand. Der Dunkelhäutige besaß kein Reittier, er trug nicht einmal Schuhwerk und statt eines Hemdes waren Stahlketten um seine Brust gewickelt.
Obwohl Merkanto nun von Wächtern umringt wurden, die seine Hände in magieunterdrückende Fesseln schlugen, konnte er das halblaut geführte Gespräch noch belauschen.
„Ich will nicht riskieren, dass sich irgendwelche dunklen Wesen im Schutz der Bäume an uns heranschleichen können“, antwortete Cailandros seinem Admiral.
„Aber sie werden uns auf den Wiesen sehen können“, gab der Barfüßige zu bedenken.
„Auch der Wald wird uns davor nicht schützen, Relabai“, sagte Cailandros ernst. „Aber für dich habe ich eine wichtigere Aufgabe. Du musst zurückfliegen. Berichte unserer Königin, dass wir Nepumuks Magier gestellt haben und uns auf dem Rückweg befinden.“
„Ich soll …?“ Der Admiral vergas vor Schreck, seine Stimme zu dämpfen. „Ich lasse euch nicht in diesem Reich der Finsternis zurück, Cail.“
„Das ist ein Befehl“, erwiderte der Anführer kalt und stolz. „Flieg zurück zum Sonnenland.“
Relabai knurrte leise. Dann senkte er den Kopf und nickte. Auf der Stelle verschwamm seine Gestalt und wich einem majestätischen Biest, einem schwarzen Mantikor, der auch im Schattenland nicht fehl am Platz gewirkt hätte.
Merkanto musste anerkennend nicken. Diesen Boten würde niemand als einen weißen Wächter erkennen. Cailandros hätte keine bessere Wahl treffen können.
Relabai hob mit einem Schlag der Fledermausschwingen ab und kreiste ein letztes Mal über dem Heer, ehe die Chimäre aus Löwenkörper, Skorpionsschwanz und Flügeln zum Horizont entschwand.
Die Wächter, die Merkanto festgehalten hatten, zerrten ihn vor Cailandros. Von seinem Pferd aus sah der Anführer abfällig auf Merkanto zurück. Er war ein Elb, aus der Nähe konnte Merkanto die leichte Spitze der Ohren erkennen.
„War es klug, Euren Liebhaber ohne einen letzten Abschiedskuss davonzuschicken?“, fragte Merkanto.
„Schweig!“, knurrte Cailandros. Sein scharfer Unterton verriet Merkanto, dass er einen Nerv getroffen hatte. „Verrate uns, wo sich dein Meister aufhält, was Nepumuk plant und welcher Mittel er sich dazu bedient.“
„Ich hörte, er will eine hohe Mauer bauen“, log Merkanto. „Einen Wall, der Licht und Dunkel für immer voneinander trennt.“
„Also fürchtet Nepumuk unsere Macht!“, höhnte einer der Soldaten. Cailandros brachte den Wächter mit einem Blick zum Schweigen.
„Meiner Erfahrung nach errichtet man Mauern nicht, um die Gefahr draußen zu halten, sondern um das, was man liebt, zu schützen“, sagte Merkanto und hielt unverwandt Blickkontakt mit Cailandros. „Man zieht sie um Heim und Hof, zum Schutz seiner Liebsten.“
Die Wangenknochen des Elben zeichneten sich am Kiefer ab. „Bringt diese gespaltene Zunge zum Schweigen. Der Magier wird noch früh genug reden.“
Eher verwirrt kamen die Weißen Wächter dem Befehl nach. Merkanto wurde stärker gefesselt, man band seine Hände zusätzlich zu der magischen Kette mit dicken Seilen und kettete auch seine Füße zusammen, sodass er nur kleine Schritte tun konnte. Ein Tuch wurde in seinen Mund gesteckt und ein zweites über seine Lippen gebunden, sodass er kein Wort mehr sprechen konnte.
Doch er sah, wie Cailandros‘ Blick besorgt zum Horizont ging, in jene Richtung, in der der Mantikor entschwunden war.
Der kleine Trupp lagerte selbstbewusst auf einem Hügel der Ebenen. Von hier konnten sie meilenweit sehen, wie Cailandros es wollte. Doch Merkanto bemerkte natürlich, dass seine Gefolgsleute weniger überzeugt schienen. Unsicher sahen die Weißen Wächter sich um und schirmten das Feuer, dass ihr Anführer entzündet hatte, unbewusst mit ihren Körpern ab.
Es waren zwanzig Mann, gut, aber leicht gerüstet. Eine kleine Gruppe, die offenbar auf Geschwindigkeit und Heimlichkeit gesetzt hatte, um Nepumuks Strategen zu überrumpeln. Dass Merkanto ihr Ziel gewesen war, war spätestens dadurch bewiesen, dass Cailandros sofort umkehrte, als er den Magier gefangen hatte.
Als der Eintopf warm war, den eine junge Dryade zusammengerührt hatte, trat Cailandros an Merkanto heran und gab seinen Leuten ein Zeichen, den Knebel zu entfernen.
Merkanto atmete durch, als das Hindernis aus seinem Mund war.
„Seid Ihr nun gesprächiger?“, fragte Cailandros auffordernd.
„Ich war von Anfang an sehr gesprächig, denke ich.“
Der Elb ließ sich vor seinem Gefangenen in den Schneidersitz sinken und drückt eine Schüssel Eintopf in Merkantos gefesselte Hände. „Haltet mich nicht zum Narren, Magier.“
„Also bitte – ich weiß, dass Ihr ein Narr seid. Warum sonst würdet Ihr auf einer solch wichtigen Mission derart viele Anfängerfehler machen?“
Cailandros stutzte und funkelte sein Gegenüber dann zornig an. „Und welche Fehler wären das? Wir haben Euch überrumpelt. In zwei Tagen sind wir über der Grenze.“
„Ich denke nicht, dass irgendjemand von euch die Grenze auch nur zu Gesicht bekommen wird.“ Seelenruhig nahm Merkanto einen Schluck des Eintopfs. „Hm, köstlich. Könnte ein wenig Speck vertragen.“
„Ihr seid allein“, knurrte Cailandros. „Wir reisen schneller, als jeder Bote eures verfluchten Herrns Euch finden und ihm berichten kann. Und im Sonnenland werdet Ihr Euch für Eure Verbrechen verantworten.“
„Ach, mein Freund. Wie immer seht ihr Sonnenländer nur, was ihr sehen wollt.“
„Herr?“, fragte die Dryade ängstlich.
Als Cailandros sich umdrehte, sah er, dass seine Gefolgsleute sie anstarrten. Das Gespräch hatten sie natürlich verfolgt.
„Was meint er damit?“, hakte ein junger Elf nach. „Was sehen wir nicht?“
Cailandros erhob sich. „Er blufft. Er ist ein Schattenländer, er lügt. Selbstverständlich, um seine Haut zu retten.“ Der Elb warf dem Magier einen finsteren Blick zu, während Merkanto in aller Ruhe den Eintopf aß. „Früh genug wird er reden und uns alles verraten.“
Nach einer unruhigen Nacht konnten es die Weißen Reiter kaum erwarten, weiterzuziehen. Ihren Gefangenen setzten sie kurzerhand auf ein freies Pferd, das vermutlich auf dem Hinweg Relabai getragen hatte.
„Wirklich praktisch, wenn man immer ein Pferd mehr dabeihat“, kommentierte Merkanto, dem sie den Knebel nicht wieder aufgesetzt hatten. „Oder habt ihr euch beim Aufbruch einfach nur verzählt?“
„Klappe“, knurrte Cailandros. „Sag uns einfach nur, wohin diese Straße führt.“
„Ich meine, zwanzig ist ja schon eine sehr große Zahl. Da kann man mal …“
„Magier!“
Merkanto richtete den Blick auf den Kiesweg. „Ach, die Straße. Keine Ahnung.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein menschlicher Wächter nach dem Knebel griff. „Aber ich schätze mal, das ist der Weg zum Hexenwald, wenn ich die Karte richtig im Kopf habe. Es wäre natürlich hilfreich, wenn ich euren Lageplan sehen könnte.“
Cailandros knirschte mit den Zähnen.
„Lasst uns einfach reiten“, bat ihn ein junger Elf. „Wir sind hergekommen, wir kommen auch wieder zurück.“
„Auf dem Hinweg wusste niemand von uns. Inzwischen könnten sie Spuren gefunden haben.“ Der Elb gab seinem Schreiber, einem blassen Jungen mit Katzenohren, einen Wink. „Also, Magier, ist das der Weg oder …?“
Merkanto warf einen einzigen Blick auf die Karte und brach in schallendes Gelächter aus.
„Knebelt ihn!“, befahl Cailandros harsch.
Merkanto wischte sich Lachtränchen aus den Augenwinkeln. „Wie habt ihr bis hierhin überlebt?!“ Zu mehr kam er nicht, weil ihm der Stoff grob in den Mund gezwungen wurde.
Sie folgten dem Weg, auf dessen ebener Fläche die Pferde rascher vorankamen. Schließlich waren die ersten Bäume von Vrecex am Horizont zu sehen wie ein flaches, dunkles Geschwür. Cailandros ließ seine Krieger anhalten und führte sie von der Straße herunter.
Sie suchten ein Tal in den Wiesen und trafen endlich auf die Grube eines verlassenen Steinbruchs. Die Späher sahen zum Wald herüber und Cailandros grübelte, wie sie die Grenze am sichersten erreichen könnten.
Während die Dryade erneut kochte, zog einer der jungen Elfen Merkantos Knebel ab.
„Ihr haltet Euch wohl für klug.“
Cailandros drehte sich mit einem genervten Stöhnen um.
„Nun, Ihr seid etwas zu spät abgebogen. Man hat Euch längst gesichtet.“
„Und warum greift dann niemand an?“
„Das wüsstet Ihr wohl gerne, wie?“
Der Elb rollte mit den Augen. „Von einem berühmten Strategen wie Euch hätte ich bessere Lügen erwartet.“
Die jüngeren Wächter verfolgten den Wortwechsel nervös.
„Was, wenn der Hexenwald eine Falle war? Wenn er uns absichtlich hierher geführt hat?“
Cailandros musterte den jungen Elfen scharf, der das Wort ergriffen hatte. „Überschätzt den Schattenländer nicht.“
„Aber er ist Merkanto! Der klügste Magier der Armee!“
„Unglaublich – nicht mal mein eigenes Land hält mich für so einen Helden!“
Cailandros und der Elf sahen kurz zu Merkanto, der sie fröhlich angrinste.
„Trotzdem ist er nur ein Magier“, fuhr Cailandros fort. „Unsere Falle hat funktioniert, wir haben ihn überrumpelt. Jetzt bringen wir ihn ins Sonnenland. Fertig!“
„Ähm, Kommandant?“ Der Wächter, der als Späher aufgestellt worden war, räusperte sich. „Da … da sind lauter Hexen.“
Die Weißen Wächter duckten sich und eilten an den Rand der Kiesgrube. Mit geweiteten Augen sahen sie einen Schwarm besenreitender Hexen aus dem Vrecex brechen.
Die Wächter griffen nach ihren Waffen. „Verflucht, wie hat er das gemacht?“, rief jemand. Panisch suchten die Kämpfer eine Formation. In der Grube waren sie gegen fliegende Gegner taktisch unterlegen.
„Ruhe!“, befahl Cailandros donnernd. „Seid still!“
Die jungen Wächter verharrten wie angewurzelt.
Die große Gruppe Hexen schwärmte aus, zischte an der Grenze entlang und über die Wiesen – jedoch nicht zur Grube.
Cailandros steckte den Degen weg, den er gezückt hatte, und richtete sich auf. „Sie haben uns nicht bemerkt. Wieso sollten sie auch?“ Mit finsterem Blick drehte er sich zu Merkanto um. „Er ist vielleicht ein Magier, aber selbst er kann keine Wunder wirken. Er ist wehrlos – er kann uns höchstens aus dem Konzept bringen, und das wäre uns heute beinahe zum Verhängnis geworden.“
„Ihr macht es aber auch zu einfach. Wer seid ihr Leute überhaupt, die Praktikanten?“
Cailandros durchquerte die Grube mit zwei schnellen Schritten. Sein Knie traf Merkantos Magen und warf den Sitzenden auf den Rücken. Japsend schnappte der alte Zauberer nach Luft.
„Kommandant …?“, stammelte einer der Elfen.
„Und Relabai …“, stieß Merkanto zwischen schmerzhaften Atemzügen hervor, „war dann wohl … euer Maskottchen …“
Schwer atmend trat Cailandros zurück. In seinem Gesicht malte sich Schrecken ab, weil er einen Gefesselten geschlagen hatte.
„Sagt mal … wenn man einen Cereceri isst, schmeckt er dann mehr wie Mensch oder mehr wie … Mantikor?“
Mit einem wortlosen Schrei stürzte sich Cailandros auf den Magier. Merkanto konnte nur die gefesselten Arme hochreißen, um sein Gesicht zu schützen, ehe Faustschläge auf seine Seiten einprasselten. Jeder Schlag nahm ihm den Atem. Dann trafen Cailandros‘ Knöchel seine Schläfen, sein Gesicht.
„Kommandant!“, rief einer der Wächter entsetzt. „Hört auf!“
Dann wurde alles schwarz.