Jacky sah sich panisch nach ihrer kleinen Schwester um, doch von Louise war keine Spur zu entdecken.
Sie wollte aus dem Marktstand springen, drückte sich aber nicht stark genug ab, blieb mit dem Fuß an einem Holzbalken hängen und schlug der Länge nach auf den sandigen Boden des Marktplatzes.
Sie schmeckte Erde im Mund. Eilige Schritte ließen den Boden dicht neben ihrem Arm erzittern, der Windzug trieb ihr Staub ins Gesicht. Sie hustete, spuckte aus und rieb sich die brennenden Augen.
Ein kehliges Knurren ließ sie auffahren. Direkt vor ihr erhob sich ein dunkler Schatten vor der Sonne und Jacky erkannte entsetzt einen gewaltigen, schneeweißen Wolf, der abschätzig auf sie herab sah.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie wimmerte unwillkürlich und krabbelte rückwärts, ohne sich darum zu kümmern, dass der raue Boden ihr die Hose zerriss. Der Wolf bleckte die langen Zähne und kam mit geschmeidigen Bewegungen auf sie zu.
Verzweifelt sah sie sich nach einer Waffe um, doch da war nur der umgestürzte Wagen in ihrem Rücken. Sie griff sich eine Handvoll Erde und schleuderte sie gegen den Wolf, der mit einem unwilligen Knurren den Kopf zur Seite wandte und dann einen Sprung auf sie zu machte.
Jacky kreischte auf, als die Pfoten zu beiden Seiten von ihr auf die Erde trafen. Das Maul näherte sich ihrem Gesicht. Sie warf sich nach hinten, ihr Kopf knallte gegen das Holz des Wagens. Mit einem lauten Knall schlugen die Kiefer kurz vor ihrer Nase aufeinander. Der heiße Atem des Tieres strich über ihr Gesicht, als plötzlich …
„He! Hier drüben, du Flohpelz!“
Jacky schluchzte vor Erleichterung, als sie Dorry erkannte, der mit seinem Hirtenstock winkend die Aufmerksamkeit des Untieres auf sich zog. Tatsächlich drehte der Wolf ab und machte zwei Sätze auf den Halbelben zu. Dann schlug er ihm die Zähne in den Hals.
Jacky konnte nur wie erstarrt zusehen, als sich Dorrys Gesicht verzerrte und Blut in alle Richtungen spritzte.
Sie sprang auf und rannte los, erst nach ein paar Schritten wurde ihr klar, dass sie nach Hause wollte, einfach nur noch nach Hause – in ihrem Bett aufwachen und erfahren, dass alles nur ein Traum war.
Tränen verschleierten ihre Sicht. Da waren unzählige Menschen, die durcheinander rannten. Jacky wurde getreten, auf den Boden geschubst, Füße traten auf ihre Hände und Beine, stießen gegen ihre Seite. Jemand fiel mit dem Knie in ihren Rücken. Sie schrie und kämpfte sich hoch, als das Gewicht verschwand, wollte weiterrennen, als eine Hand ihren Knöchel packte.
Gwanneth sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, Blut lief über seinen kahlen Schädel, an dem mehrere Stellen aufgeplatzt waren wie bei einer überreifen Tomate. Er lag auf dem Boden und Leute liefen einfach über ihn. Jacky hörte ein Knacken, von dem sich ihr der Magen umdrehte.
Sie riss und wehrte sich gegen Gwanneths Griff, dann trat sie ihm panisch auf die Finger und lief weiter. Sie wollte nur noch nach Hause!
Doch auch hier herrschte Chaos. Helle Flammen schlugen aus dem Strohdach, Schreie und Rauch lagen in der Luft, vermischt mit dem Pfeifen des Teekessels. Jacky sprintete vorwärts: „Mama! Papa!“
Ein dunkler Schatten schoss von der Seite heran und rempelte sie an. Jacky rutschte über den Boden, schürfte sich die Arme aus und blieb endlich liegen.
Mühelos überwand ein kleinerer, schwarzer Wolf den Abstand zwischen ihnen und beugte sich über sie.
Ehe sie sich wehren konnte, spürte sie seine Zähne am Hals.
Mit klopfendem Herzen blieb sie liegen und schloss die Augen. Sie konnte keinen Muskeln rühren, so, wie man sich unter der Decke versteckte, wenn gruselige Schatten durch das Kinderzimmer tanzten. Ihre Hände grub Jacky tief in die Erde.
Doch der Wolf biss nicht zu. Er blieb regungslos stehen, während jammervolle Schreie aus dem brennenden Haus drangen.
„Mama!“, Jacky schluchzte, die Tränen liefen über ihre Wangen und in die Erde.
Sie kam wieder zu sich. Ihr Gesicht lag im Dreck. Ihre Arme und Schultern pochten, weil sie verdreht waren. Als sie sich rührte, stellte sie fest, dass ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Auch ihre Knöchel waren aneinander gefesselt.
Sie verrenkte den Hals und sah sich um. Neben ihr lag ein vertrautes, verheultes Gesicht.
„Louise!“
Ihre Schwester sah auf und brach in Tränen aus. Das Wasser kullerte nur so über ihre Wangen, kleine Blasen stiegen aus ihrer Nase aus.
„Schsch, nicht weinen!“, flüsterte Jacky hilflos.
Schritte näherten sich.
„Was machen wir mit ihr? An der ist nichts dran.“
„Wir nehmen sie für die Züchtung“, eine ältere Stimme. Beide hielten neben Louise an. „Die Rothaarige auch, die ist schneller reif.“
„Was … was habt ihr mit uns vor?“, piepste Jacky. „Bindet mich sofort los!“
Raue Stimmen lachten. Grobe Hände zerrten sie und Louise hoch.
„Au! Das tut weh!“, beschwerte sich Jacky.
„Sag deinem Welpen, sie soll endlich die Klappe halten“, knurrte die ältere Stimme, die dem Mann gehörte, der sich Jacky soeben auf die Schulter hievte. „Sie geht mir auf die Nerven.“
„Mich stört es nicht, Vater“, sagte die jüngere Stimme, die einen unterwürfigen Unterton hatte.
„Aber mich. Sie hetzt uns noch die Weißen Wächter auf den Hals“, knurrte Jackys Träger. Er rüttelte sie unsanft: „Wird's bald?“
„Louise!“, stammelte Jacky volelr Angst. „Lou, hörst du mich? Du musst mir jetzt gut zuhören und ganz tapfer sein, ja? Ganz, ganz tapfer!“