Durch die hohen, schmalen Fenster drang heller Fackelschein. Das warme Licht hieß Iljan willkommen, als er auf den Hof stapfte. Die Schneestürme hatten sich etwas beruhigt, doch der Schnee lag knietief. Selbst in dem Zugang, den man bis vor die Pforte des Schlosses freigeschaufelt hatte, sank Iljan bis zu den Knöcheln ein.
Als er sich näherte, drang Gelächter in die stille Nacht – es kroch durch winzige Ritzen an den Fenstern oder sickerte durch das dicke Gemäuer. Musik war ebenfalls zu hören. Iljan erkannte Laute und Tröte, nicht unbedingt Instrumente, die Nepumuk bei einem feierlichen Anlass wählen würde.
Der blonde Grafensohn klopfte gegen die Doppeltür, die ebenso hoch und schmal wie die Fenster war. Ein Flügel der Tür alleine war schmaler als eine gewöhnliche Tür, weshalb der Diener, der Iljan hereinließ, beide Tore aufstieß.
Es handelte sich um einen ältlichen Ghul mit spitzen Ohren, fahler Haut und Buckel. Er verneigte sich vor Iljan. „Der junge Herr!“
„Danke, Karoph.“ Iljan händigte dem Butler seinen Überwurf aus. „Ich werde direkt nach oben gehen.“
„Junger Herr …“ Der Ghul hatte einen entschuldigenden Tonfall. „Euer Vater verlangt, dass Ihr bei Eurem Eintreffen über die Feier informiert und angekleidet werdet.“
Iljans Lippen zuckten widerwillig. Dann seufzte er. „Ja, das sieht ihm ähnlich. Ich kann mich selbst einkleiden.“
Der Ghul nickte und murmelte: „Tut mir leid.“
Während er die Treppen hinauf stapfte, knurrte Iljan wortlos. Nepumuk wusste, wo er ansetzen musste, um seinen Sohn zu etwas zu zwingen. „Über die Feier informieren!“, schimpfte Iljan auf der breiten Wendeltreppe hinauf in die dunklen Obergeschosse. „Als ob man die überhören könnte!“
Doch wenn er sich weigerte, dem indirekten Befehl seines Vaters nachzukommen, würde Karoph dafür leiden müssen. Denn immerhin ging Nepumuks Befehl an den Diener – er war verantwortlich.
Iljan schlug die Tür zu seinen Gemächern zu. Sein Zimmer lag am Beginn eines weiteren schmalen, hohen Ganges. Es war ein schmales, hohes Zimmer hinter einer schmalen, hohen Tür. Die Wände bestanden, wie überall im Schloss, aus dunklem Stein und geschwärztem Eisen, mit vielen vorspringenden Kanten und Zinnen. An der einen Wand stand mittig ein vergitterter Kamin, diesem gegenüber Iljans Bett, ein verzierter, schwarzer Sarg auf einem steinernen Podest. Der Boden war aus hellen, unregelmäßigen Marmorplatten, doch an der Rückwand lag ein dicker, grauer Teppich, an dessen Seite zwei unpassende Sessel mit orangem Bezug und ein gelbes Sofa standen. Die Sitzecke wurde umrahmt von zwei Fenstern mit weinroten Vorhängen.
Eine Tür führte in den Ankleideraum. Iljans Garderobe war schwarz und weiß wie der Rest des Schlosses, mit passenden roten oder goldenen Akzenten. Iljan legte die vom Schnee durchnässte Kleidung ab und schlüpfte in ein Hemd, schwarze Hose und Frack mit Schwalbenschößen. Er kämmte sein Haar ordentlich im Badezimmer – es lag dem Ankleideraum gegenüber, doch in der Trennwand hinter dem Kamin gab es auch eine Tür, um zwischen beiden Räumen zu wechseln – und stopfte zu guter Letzt ein gelbes Tuch in die Brusttasche. Einen Moment blieb er vor dem leeren Spiegel stehen, der kein Spiegelbild anzeigte. Dann seufzte er, öffnete eine Schublade und holte eine Fliege hervor, die er sich um den Hals band.
Niedergeschlagen strich er die Kleidung glatt. Dann straffte er sich, verließ das Zimmer und ging mit energischen Schritten nach unten, ganz so, wie man es von ihm erwartete.
Die Feier war in vollem Gange, als er eintrat. Fackeln und Kronleuchter erhellten den Saal, der – wie könnte es anders sein? – hoch und schmal war. Am einer Seite standen drei lange Tische, an deren Seiten zwanzig Personen Platz gefunden hätten, doch trotzdem wirkten sie verloren in dem gewaltigen Raum. Die Speisen darauf bestanden überwiegend aus Karaffen mit rotem Inhalt, wenngleich es ein paar Häppchen für die Gäste gab.
Die wenigsten Gäste hatten Gelegenheit gehabt, die angebotenen Speisen zu genießen.
Am Kopfende der Halle stand die einzige Sitzgelegenheit, Nepumuks hoher, schmaler, schwarzer Thron. Doch das Möbelstück war verwaist. Die Dekorationen unter der Hallendecke, an den Wänden und auf den Tischen waren wenige. Einige Tischtücher, neue Gemälde, ein paar rote, schwere Tücher wie in einem Theater, einige Kerzenhalter. Auf einen Fremden mochte das alles beeindruckend wirken, doch Iljan hatte die Halle zu großen Banketten, Beratertreffen und Familienfeiern gesehen. Nepumuk hatte auf die Einrichtung nicht viel Zeit verschwendet.
Neben der Tür saßen die Musiker auf einer hölzernen Bühne. Bei Iljans Eintreten hatten sie ein paar falsche Töne gespielt, weil sie sich erschreckt hatten. Auch jetzt hatten sie besorgte, verkrampfte Gesichter, Iljan konnte ihren Angstschweiß riechen.
Widerstrebend richtete er seinen Blick auf die Mitte des Saals.
Der Boden war mit Teppichen ausgelegt, auch wenn man diese kaum erkennen konnte. In dem Gewirr der Leiber war Nepumuk nicht sofort zu erkennen. Iljan entdeckte allerdings ein paar andere Vampire, die häufiger im Schloss waren. Untergebene, Arschkriecher und ein paar intelligente Talente, die Nepumuk unter seine Fittiche genommen hatte.
Die restlichen „Gäste“ waren Gefangene. Man erkannte sie gut an der dunkleren Haut im Vergleich zu den Vampiren, an den kaum verheilten Verletzungen, an den ausgemergelten Körpern. Und an ihren Gesichtern, verzerrt vor Angst und Schmerz oder apathisch.
Iljan bahnte sich seinen Weg zwischen den Nackten hindurch und versuchte, das Stöhnen, Wimmern und Knurren auszublenden. Ihm stieg der süßliche Geruch von Blut und die dumpferen, fischigen Gerüche von Sperma in die Nase. Er bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht.
Als er die langen, weißen Haare seines Vaters entdeckte, beschleunigte Iljan seine Schritte leicht. Einmal trat er auf eine Hand, doch deren Besitzer erhob kein Wort gegen ihn.
Iljan tippte Nepumuk auf die Schulter. Der Vampir hob den Kopf aus dem Schoß der jungen Frau, die er bereits mit seinem Vampirgift gefügig gemacht hatte, und sah sich mit funkelnden Augen um. Sein Blick wurde weicher, als er Iljan erkannte.
„Mein Sohn! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“
„Danke“, sagte Iljan steif. „Hör zu, Vater, ich habe eine lange Jagd hinter mir und …“
Nepumuk war bereits auf den Beinen und hatte einen Arm um Iljans Schultern gelegt. „Halt, halt, halt! Denkst du, ich habe das alles hier nur zum Spaß organisiert? Du bist jetzt dreizehn, ein wichtiges Alter. Du hast keine Ausrede mehr, den wichtigen Banketten fernzubleiben. Es wird Zeit, dass du zum Mann wirst.“
Iljan starrte seinen Vater mit großen Augen an. Das hier, dieses Grauen … war für ihn?! Seinetwegen?!
Nepumuk deutete sein Entsetzen falsch. „Ich weiß, du kennst dich mit unseren Ritualen nicht aus, also werde ich dir erklären, was wir hier tun …“
„Ich weiß, was ihr tut!“, knurrte Iljan. „Ich habe immer wieder gesehen, wie am nächsten Morgen die Leichen hier rausgezogen wurden! Ich habe einmal den Fehler gemacht, euch durch das Schlüsselloch zu beobachten. Erinnerst du dich an die Woche, als du dachtest, ich sei vergiftet worden, weil ich mich so oft übergeben habe?“
„Raphaele!“, zischte Nepumuk. Er legte seinem Sohn beide Hände auf die vor Wut bebenden Schultern. „Reiß dich zusammen!“ Der Graf zog seinen Sohn zur Pforte der Halle und hinaus.
Iljan wehrte sich halbherzig gegen den Griff seines Vaters. Wirklich Widerstand zu leisten, wagte er allerdings nicht. „Vater …“ Seine Stimme klang flehend, dabei wusste er nicht einmal, worum er bettelte. Dass Nepumuk ihn nicht bestrafen würde? Dass das ‚Fest‘ beendet wurde? Dass sein Vater endlich einmal zuhörte?
Der Graf stieß seinen Sohn durch die Flügeltüren und hinaus auf die verschneiten Stufen. Iljan stieß gegen das steinerne Geländer der Treppe.
Erstaunlicherweise war Nepumuks Stimme sanft, als er sprach.
„Ich weiß, das ist schwer für dich, Iljan.“
Der Grafensohn sah auf. Das war mit Sicherheit das erste Mal, dass Nepumuk den Namen ‚Iljan‘ benutzt hatte.
„Mich kostete es damals auch Überwindung“, gestand sein Vater überraschend. „Und ich war ein Reinblut, während du … zu viel vom schwachen, sterblichen Blut deiner Mutter fließt in deinen Adern.“
Iljan hörte seinen Vater zum ersten Mal in diesem wehmütigen Ton von seiner Mutter reden. Sprachlos sah er Nepumuk an.
„Ja, deine Mutter war etwas ganz Besonderes. Unter den vielen tausend Sklaven, die durch diese Pforten gingen, stach sie von Anfang an heraus. Mutig. Kämpferisch. Wild. Ich konnte nicht genug von ihr kriegen, wo ich alle anderen Mädchen schnell leid wurde. Sie gab Widerworte. Sie hatte eine spitze Zunge, sag ich dir.“ Nepumuk seufzte. „Als sie schwanger wurde, war es zu spät, um sie noch zu verwandeln. Es ist alles meine Schuld.“
Iljan trat einen Schritt vor. Sein Vater sah nicht, wie er die Hand ausstreckte, um ihn zu trösten.
Nepumuk seufzte. „Wir sind alle einmal jung. Ich war so töricht. Ich hätte sie direkt töten sollen, als sie schwanger wurde. Ich hätte dich ihr wegnehmen sollen, nachdem ich dich verwandelt hatte. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du mit ihr groß wirst. Aber weißt du … wir alle machen Fehler. Besonders in jungen Jahren kochen die Gefühle über und man lässt sich mitreißen … aber wir sind Vampire. Es ist unsere Pflicht, uns der Logik und dem Kalkül zu verschreiben. Besonders wir, Raphaele, als Berater der Königin. Ja, auch du wirst eines Tages Berater werden. Doch nicht, wenn du zulässt, dass dir der jugendliche Leichtsinn zu Kopfe steigt!“
Nepumuk drehte sich um. Sein Sohn stand mit dem Rücken am Geländer, als wäre er niemals vorgetreten. Ein verletzter Ausdruck lag in seinem Blick.
„Und nun höre auf, dich wie ein Sterblicher zu verhalten“, sagte sein Vater streng. „Wenn du dich ekelst, dann lass es dir nicht ansehen. Du bist ein Graf, Raphaele, lass solche Kindereien nicht deine Zukunft vernichten! Du wirst es nur später bereuen.“
Niemals würde Iljan es bereuen, die grausamen Vampirfähigkeiten abzulehnen. Niemals würde er wie sein Vater werden, derartig kalt und grausam! Nichts und niemand in der Welt könnte ihn zwingen, sich zu solch einem bleichen Monster zu entwickeln!
Aber das vertrauliche Gespräch hatte ihn vor den Kopf gestoßen. Nepumuk hielt seine Rede vermutlich noch für beruhigende, ermutigende Worte! Nie zuvor war der hochgewachsene Graf Iljan derartig fremd vorgekommen.
„Ja, Vater“, murmelte er deshalb mit gesenktem Kopf.
Er konnte es nicht. Er konnte nicht länger widersprechen. Sein Vater lebte in einer völlig anderen Welt. Iljan konnte nicht zu ihm durchdringen. Kraftlos musste er sich eingestehen, dass er niemals akzeptiert werden würde.
Nepumuk zog seinen Sohn in eine feste Umarmung. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist. Und ich bin stolz auf dich.“
Iljan hätte heulen können.