Es war ein längerer Flug, doch Askook genoss es. Zusammen mit Cary konnte er die Ebenen von Mîm bewundern, diese wilden, weiten Hügel und Täler, die fast wie ein erstarrtes Meer unter ihnen lagen. Sie folgten ungefähr der Straße, bogen jedoch ab und flogen über kleinere Höfe und durch unbewohnte Täler.
Zum ersten Mal konnte er wirklich ausgelassen fliegen, mit den Winden spielen, die von den Bergen herabrollten, er konnte die Wolken jagen, Vogelschwärme aufscheuchen, genau, wie er es sich früher erträumt hatte. Cary auf seinem Rücken jauchzte ausgelassen.
Jump, take a leap of faith.
Shake your heart awake, believe.
You have all it takes.
Open your wings!*
Sie benötigten auf diese Weise etwas länger, um anzukommen. Schließlich passierten sie jedoch die Lücke in den Bergen und näherten sich dem Schloss der Sonne. Weiß und golden ragte es vor ihnen in die Höhe und Cary wurde stiller.
»Worüber denkst du nach?« Askook drehte den Kopf zu ihr.
»Verantwortung«, murmelte sie. »Als Königin muss ich jetzt wohl entscheiden, welche neuen Gesetze gelten. Und wie ich mit Leuten verfahre, gegen die wir vielleicht mal gekämpft haben. Ich will unparteiisch sein, gerecht, aber das … wird nicht leicht.«
»Das ist Herrschen nie. Es gibt immer Fälle, wo man nicht weiß, was gerecht wäre. Aber du bist klug.«
Sie lächelte. »Ich habe viel nachgedacht. Vielleicht kannst du mir gleich meinen ersten Rat geben. Denkst du, ich sollte den Zwergen verzeihen, die dich damals getötet haben?«
Er geriet etwas aus dem Takt und sackte ein Stück ab. »Diesen Sklaventreibern?«
Cary nickte fest. »Härtefall. Also – sie haben uns gefangen, in Ketten gebunden und einen von uns getötet. Würdest du ihnen verzeihen? Könntest du damit leben, dass ihre Strafe aufgehoben wird?«
»Sie wurden bestraft?«
»Oh – ja, sie sitzen noch immer im Kerker des Schlosses.« Cary lehnte sich zurück und beobachtete ihn.
»Ich … ich finde, sie gehören dorthin«, brummte er.
»Das verstehe ich natürlich. Aber wir haben auch Schlimmes getan. Wir haben selbst jemanden getötet, und doch wollten wir immer eine zweite Chance. Wäre es da nicht gerecht, auch ihnen eine zweite Chance zu geben?«
Er schwieg und knirschte mit den Zähnen. »Du hast vermutlich recht«, gestand er langsam. »Aber was, wenn sie uns dann jagen?«
»Das ist das Risiko.« Cary seufzte schwer. »Manche werden die zweite Chance wohl nutzen, um noch mehr Unheil anzurichten. Dann werden sie bestraft. Aber ich denke, es wäre gerecht, wenn sie vorher Vergebung erhalten. Das ... würde Iljan wohl tun.«
»Ich sehe, du hast nicht übertrieben.« Er knurrte leicht. »Ich schätze, es wäre nur fair, ja.«
Cary tätschelte seine Schuppen. »Du hast noch Zeit, um dich an die Vorstellung zu gewöhnen. Ich werde nicht sofort damit anfangen.«
Sie waren nun fast beim Schloss und Askook musste sich darauf konzentrieren, einen Landeplatz zu finden. Er steuerte einen Balkon an und setzte gerade auf, als die Türen geöffnet wurden.
Heraus trat eine dunkelhaarige, etwas füllige Frau mit ebenmäßigen Zügen, gekleidet in eine weiße Robe.
Askook erstarrte ungläubig. »Gudrun?!«
»Na, Großer?« Die Hexe reichte Cary die Hand, um ihr beim Abstieg zu helfen.
»Du … hast dich verändert.«
Ihre Nase war noch immer hexenartig und auch die Augen waren weiterhin verschiedenfarbig, doch sie sah sehr viel weniger bucklig aus.
»Nicht nur das – meine alte Macht kehrt langsam zurück.« Gudrun machte einen Schlenker mit dem Handgelenk und die Doppeltür am Ende des Balkons schwang wieder auf – diesmal wie von selbst.
»Dann bist du jetzt wieder eine Sonnenland-Zauberin?«
Gudrun grinste ihn an. »Ich glaube einfach fest daran.«
Every breath you breathe is art.
All your wildest dreams, already are.
Gudrun hatte sich in Carys Abwesenheit um das Schloss gekümmert. Als ehemalige höchste Magierin kannte sie sich hier schließlich auch aus. Doch nun musste Cary die großen Entscheidungen treffen. Es dauerte nicht lange, und die beiden rauschten davon, um sich um alles zu kümmern. Askook blieb sich selbst überlassen.
Er suchte sich einen Platz oben auf den Zinnen, von wo aus er über das Land blicken konnte.
Offenbar hatten alle seine Freunde ihren Platz gefunden. Sie blühten richtiggehend auf. Er freute sich für sie, ohne Zweifel, doch inzwischen merkte er, dass er nirgendwo länger als einige Tage blieb.
Er war frei. Und langsam wurde ihm klar, was Freiheit bedeutete.
Am Abend spürte ihn Gudrun auf. Die Hexe brachte eine Platte mit Obst mit, setzte sich neben ihn und schwieg eine ganze Weile.
»Terzabrax hat übrigens damit gerechnet, dass du hierher kommst«, begann sie schließlich.
»Ja?« Überrascht merkte er auf.
»Ja. Er hat eine Botschaft geschickt. Du sollst zur Pforte zurückkehren, sobald du kannst.«
Er seufzte. Ein weiterer Aufbruch. »Ich fliege gleich morgen los.«
»Schade, dass du nicht länger bleiben kannst.« Die Hexe lehnte sich gegen ihn. »Es war gut, dich wiederzusehen. Bis zum Treffen mit allen wird es ja noch eine Weile dauern.«
»Das ist schon beschlossen?«
Gudrun lachte leise. »Terz hatte die gleiche Idee, noch bevor Cary von Iljans Plan erzählt hat. Das ist definitiv beschlossen.«
Er atmete auf. Das erleichterte ihn ungemein – er wollte diese Gruppe nicht verlieren, die er doch erst vor Kurzem wiedergefunden hatte. Jetzt konnte er sich darauf freuen, dass sie bald wieder vereint wären.
Er nahm noch etwas mehr vom Obst. »Nun, ich sollte mich wohl ausruhen. Ich habe noch einen langen Flug vor mir.«
»Gute Nacht, Askook.« Gudrun stand auf. »Grüß mir Terzabrax, ja? Und Naja, falls du ihn siehst. Und ... alle anderen.«
Sie wusste wohl, dass er morgen aufbrechen wollte, ohne sich zu verabschieden. Noch ein Lebewohl würde ihm einfach zu viel werden.
------------------------------
*»You are Light«, Thomas Bergersen feat. Felicia Farerre