„Du willst es nicht verstehen!“ Mit vor Wut leicht geröteten Wangen starrte Iljan seinen Vater an. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt.
„Ich sehe nicht, was es daran zu verstehen gibt“, entgegnete Nepumuk kalt. „Du versuchst alles, um mich zu demütigen, um mir zu widersprechen, um mich bloßzustellen. Du testest deine Grenzen aus, und die setze ich dir hier!“ Nepumuk wies zu dem Becher auf dem Boden und dem Blut, das im Teppich versickerte. „Wenn du nichts trinken willst, dann ist das deine Entscheidung. Ich werde dich nicht füttern wie einen Säugling. Aber du kriegst auch nichts anderes. Du wirst in diesem Raum bleiben, bis du zur Vernunft gekommen bist.“
Der Graf warf seinen Mantel über die Schulter, dass der Stoff raschelte, und verließ das Zimmer. Er knallte die Tür nicht zu – ein Geräusch, auf das Iljan unbewusst wartete – sondern schloss diese leise, fast sanft. Mit kaum hörbarem Klicken drehte sich der Schlüssel im Schloss.
Iljan wartete eine Minute. Dann stürzte er zur Tür und rüttelte am Griff.
Verschlossen.
„Denkst du, ich mache nur leere Worte?“, zischte er jenseits des dunklen Holzes.
Iljan schrak zusammen.
„Oh nein. Ich werde dich verhungern lassen, wenn ich muss“, fuhr Nepumuk hämisch fort. „Du wirst dich zu benehmen lernen.“
Nepumuk machte keine Schrittgeräusche, aber Iljan war sich sicher, dass sein Vater nun gegangen war. Erschöpft ließ er sich innen an der Tür auf den Boden sinken. So viel zum Thema ‚ein ruhiges, klärendes Gespräch mit seinem Vater führen‘. Was hatte er sich denn gedacht? Nepumuk würde ihn niemals verstehen. Dafür war Iljan zu sehr Mensch.
Er zuckte mit der Nase. Der Blutgeruch hing immer noch schwer im Raum und rührte an Instinkten, die Iljan nicht wahrhaben wollte. Er stand auf und marschierte über den Teppich. Hin und her. Doch der Geruch wurde nur schlimmer. Iljan malte sich aus, wie er auf die Knie ging, am durchtränkten Stoff saugte, um ein paar köstliche Tropfen …
Nein! Sein Verstand begehrte auf. Das war weit unter seiner Würde. Das würde den Sieg seines Vaters bedeuten! Er durfte sich Nepumuk nicht länger ergeben. Wenn er verhungern musste, um endlich ein guter Vampir zu sein, würde er das tun! Aber in diesem Zimmer würde ihm das nicht gelingen. Iljan wusste, dass die Gier nach ein paar Tagen zu stark werden würde. Irgendwann setzte ein Überlebenstrieb ein. Zwar konnte er sich immer länger beherrschen – beim letzten Mal hatte er zwei Wochen durchgehalten – doch zwei Wochen reichte nicht aus.
Ein kräftiger Satz. Glas klirrte. Dann befand sich Iljan im freien Fall, der Wind brauste in seinen Ohren. Noch im Sturz verwandelte sich der Vampir in eine kleine Fledermaus und stabilisierte den Fall. Er wusste nur zu gut, dass ein Sturz aus großer Höhe ihn kaum umbringen würde. Zudem wäre das der leichte Weg, doch er wollte den schweren nehmen. Hoffentlich könnte er damit beweisen, dass er recht hatte.
Mit kräftigen Schlägen der Flughäute stieg er in den Himmel auf. Seine feinen Ohren, durch Jahre des Trainings gestählt, konnten ihm die gesamte Umgebung zeigen. Er hörte auch noch etwas, das die Fledermaussinne nicht direkt übersetzen konnten. Eine Art Energie, die aus dem Schloss hinter ihm drang.
Ein Wutschrei seines Vaters. Ob er über Iljans Flucht wütender war als über das geborstene Fenster? Vermutlich nicht einmal das.
Der Vampir flog, so lange seine Flügel ihn trugen. Zunächst hetzte er blindlings vorwärts, überzeugt, dass sein Vater ihn verfolgen würde. Doch entweder, Nepumuk versuchte es gar nicht erst, oder Iljan hängte ihn bereits in diesen ersten Stunden ab. So oder so nahm er kein Anzeichen eines Verfolgers wahr.
Schließlich merkte er jedoch, dass die Luft wärmer wurde. Ein untrügerisches Zeichen, dass die Sonne nahte. Iljan sank tiefer und suchte sich seinen Weg zwischen Tannen hindurch, deren Nadeln verwirrende Klangechos erzeugten. Als er den Boden nicht mehr weit unter sich wusste, nahm er menschliche Gestalt an und landete leichtfüßig in kniehohem Schnee.
Blinzelnd sah er sich um. Der Himmel war grau und wurde immer heller. Weder der Wald noch das ferne Gebirge kam ihm bekannt vor. Doch in normaler Form funktionierte seine Nase besser.
Iljan erstarrte. Wolfsfährte. Er roch Werwölfe! Offenbar war er bei seiner kopflosen Flucht mitten ins Revier seiner Todfeinde geraten.
Sein Blick huschte zum Himmel. Der Mond war beunruhigend voll, was bedeutete, dass die Wölfe ihm selbst eins zu eins überlegen wären. Wenn er auf ein Rudel stieß, war er vermutlich geliefert.
Gehetzt sah er sich um. Außerdem musste er einen Schutz vor dem Tageslicht suchen, wenn er seine letzten Kräfte nicht allesamt verlieren wollte. Sonnenlicht konnte er eine Zeitlang ertragen, doch nicht auf Dauer und nicht in seinem durch Blutmangel geschwächtem Zustand.
Er hätte fluchen können, doch er wagte es nicht, irgendeinen Lärm zu verursachen. Diesmal saß er richtig tief in der Patsche. Was hatte er sich nur gedacht?
Iljan versuchte, sich zu beruhigen. Panik würde ihm jetzt auch nicht weiterhelfen.
Er sah sich um und versuchte, irgendetwas über seine Umgebung herauszufinden. Er war in irgendeinem Wald. Im Wolfsgebiet – natürlich! Von allen Orten, die es hatte treffen können.
Die fernen Berge würden sicherlich schützende Höhlen haben, aber erstens war Iljan sich nicht sicher, ob er rechtzeitig vor Sonnenaufgang dort wäre, und zweitens wusste er, dass dort die meisten Wolfsrudel lebten. Jeder Höhle wäre bestimmt schon lange von seinen Erzfeinden besetzt. Wenn ihn die Sonne unterwegs nicht tötete, dann die Wölfe, sobald er ankäme.
Also brauchte er einen anderen Plan. Zur Not konnte er sich noch in den Schnee eingraben und einfach abwarten. Mit leise knirschenden Schritten stapfte er los. Vielleicht gab es hier irgendwo Hütten, alte Zelte, Ruinen … irgendwas.
Er war noch nicht lange gewandert, als ihm ein stechender Geruch in die Nase wehte. Der Wind trug ihm den Gestank von Werwölfen zu. Iljan schloss einen Moment die Augen. Heute hatte er wirklich Pech.
Der Geruch kam mit dem Wind. Also hatten sie Iljan noch nicht gewittert. Er sah sich um und wälzte sich dann im Schnee, um seinen Geruch zu überdecken. Danach eilte er zurück, seine eigenen Fußstapfen ausnutzend. Doch er merkte, dass der Geruch stärker wurde. Sie holten auf.
Iljan blieb nur eines zu tun: Er kletterte auf den nächstbesten Baum. Nadeln zerkratzten seine Haut und verfingen sich in Kleidung und Haar, während er immer höher über die Äste der Tanne stieg. Jeder ihrer Äste deutete nach unten, was hieß, das Iljan viel zu leicht abrutschen konnte. Fast jeder seiner Schritte schickte Schnee nach unten, der auf den äußersten Spitzen der Äste gelegen hatte. Sobald Iljan sich halbwegs im kargen Grün der Tanne verborgen wähnte, erstarrte er und drückte sich fest an den Stamm. Tannennadeln wuchsen nicht gerade so dicht, dass man ihn nicht sehen konnte. Doch solange die Werwölfe nicht direkt nach oben sahen, war Iljan vielleicht sicher.
Es waren sieben, angeführt von einem kräftigen, dunkelbraunen Weibchen und seinem schneeweißen Gefährten. Ihnen folgten die fünf kleineren Wölfe mit schwarz-weißer Zeichnung. Offenbar der jüngste Wurf des Alphapärchens. Ihre Schnauzen waren blutverschmiert. Sie kehrten von einer erfolgreichen Jagd heim und würden weder eine schwache Witterung noch einen verängstigten Vampir bemerken. Hoffte Iljan.
Doch unmittelbar neben dem Stamm des Baumes, auf dem er hockte, hielt der Alpha plötzlich an, um zu markieren. Die weiße Wölfin trottete weiter und hielt ein paar Schritte entfernt geduldig. Die Jungen tollten durch den Schnee und verwischten die Spur, die Iljan hinterlassen hatte.
Die Wölfin sah sich um, während sie wartete. Plötzlich setzte sie sich in Bewegung und lief direkt auf Iljans Fußstapfen zu. Er schloss die Augen und presste die Wange gegen den harzigen Stamm.
Bitte … bitte … bitte …
Die Sonne stieg höher. Iljan spürte ihre unangenehme Wärme so intensiv, als wäre er ein Braten, der dicht über dem Feuer geröstet wurde. Langsam, sodass das Fleisch schön mager und fein werden würde und die Kruste nicht verbrannte …
Die Wölfin witterte. Dann knurrte sie so durchdringend, dass sich die feinen Härchen in Iljans Nacken sträubten. Die Jungen brachen ihr Spiel ab, der Alpha hörte auf, zu markieren. Wachsam sah das Rudel sich um und witterte. Dann heftete einer des Jungtiere seinen Blick direkt auf Iljan und alarmierte die anderen Werwölfe mit einem japsenden Bellen.
„Nein!“, hauchte der junge Vampir entsetzt. Die Wölfe gingen sofort zum Angriff über. Sie sprangen gegen den Stamm und bissen nach den unteren Ästen. Mit den kräftigen Klauen an ihren Vorderpranken konnten sie sogar ein Stück heraufklettern. Das alles reichte nicht, um Iljan zu erreichen, doch das versuchten die Wölfe auch nicht. Sie fällten den Baum mit roher, jedoch methodischer Gewalt. Die Spitze schwankte bereits so wild hin und her, dass Iljans Hände den Griff um den Stamm zu verlieren drohten. Unten splitterte und krachte Holz. Nadeln peitschten Iljans ins Gesicht.
Lange würde der Baum nicht durchhalten. Iljan nahm allen Mut zusammen, stieß sich von dem Ast ab, auf dem er gesessen hatte, und sprang.
Im Flug verwandelte er sich. Er spürte, wie die Fledermausgestalt an seinen Kraftreserven zehrte. Die Sonne stand bereits über dem Horizont, ihre Strahlen fühlten sich an, als würde Nepumuk mit hunderten Schwertern auf Iljan einschlagen, damit er endlich gehorchte.
Zum ersten Mal hatte der diesmal imaginäre Nepumuk damit Erfolg. Iljan verdoppelte seine Anstrengungen und flog, so schnell er nur konnte. Seine Schwingen erzeugten ihre eigenen Schallwellen, die er kläglich zwischen den dämpfenden Tannen versickern sah.
Die Wölfe konnte er nicht gut erkennen, doch er hörte, dass sie ihm folgten. Er musste an Höhe gewinnen, auch wenn das bedeutete, aus dem Schatten des Waldes aufzusteigen, hinein in die brennende Sonne. Iljan schraubte sich verbissen immer höher. Er dachte an seinen Vater und wie schadenfroh Nepumuk wäre, wenn er die Neuigkeiten hörte: ‚Euer Sohn ist im Wolfswald verunglückt. Er war geschwächt. Sie haben ihn zerrissen. Es tut mir leid, Graf Taidoni.‘
Oh, Nepumuk würde den Überbringer dieser Nachricht schwer bestrafen. Er würde wüten und toben und den Vorfall vielleicht sogar als Vorwand nutzen, um die Werwölfe in einen Krieg zu verwickeln.
Doch trauern? Nein, der Graf würde niemals um seinen Sohn trauern, dem er verboten hatte, davonzufliegen.
Dieser Gedanke gab Iljan Kraft und er flatterte immer weiter hinauf. Er konnte Rauch riechen, was sicherlich kein gutes Zeichen war. Trotzig rang er sich immer wieder einen Flügelschlag ab, bis er spürte, wie er keuchte und schwitzte, wie ein normaler Lebender um Atem rang.
Sicherlich war er bis zu den Wolken aufgestiegen. So fühlte er sich jedenfalls. Er legte die Schwingen an, spannte nur das äußerte Fingerglied auf und ging in einen rasanten Sturzflug.
Wie ein Pfeil schoss er nach unten und wurde immer schneller und schneller. Mit den äußersten Flügelhäuten steuerte er sich ganz leicht in die Waagerechte, sodass er auch Strecke machte und nicht einfach wieder vor die Pfoten der lauernden Wölfe fiel.
Die Welt rauschte vorbei. Längst waren Iljans Ohren angeklappt und er war blind. Der Wind schlug gegen seine Trommelfelle und vor seinem Inneren Auge entstanden die Bilder von massiven Felswänden, die auf ihn regneten.
Die Fledermausgestalt war eben nicht für Sturzflüge geschaffen. Iljan hatte Glück, denn ihn peitschten einige Tannenzweige, ehe er auf dem Boden aufschlug. So konnte er die Flügel aufspannen und seinen Sturz abbremsen. Bis ein gewaltiger Widerstand gegen seinen Flügel traf. Ein Baumstamm. Iljan überschlug sich. Instinktiv nahm er menschliche Gestalt an.
Er schrie, als er durch Schnee rollte und der gebrochene Arm schmerzhaft auf den Boden stieß. Dann kam der junge Vampir zum Liegen. Er hatte es an den Waldrand geschafft. Schnee fiel und deckte ihn schnell mit einer dünnen Schicht zu.
Iljan konnte sich nicht rühren. Müde schloss er die Augen, umklammerte den verletzten Arm und schluchzte leise. Nie zuvor hatte er sich so jung, verletzlich und hilflos gefühlt. Er wünschte sich sogar zurück zu Nepumuk.