Als Stella die Elfe zum ersten Mal sah, war Cary gerade beim Training. Sie tänzelte über einen Balken und schwang den Säbel. Die Augen hatte sie geschlossen, doch das tat ihrer Sicherheit keinen Abbruch. Jedoch standen die anderen Rekruten mit feixenden Gesichtern daneben und warteten nur darauf, dass ihr ein Fehler unterlief.
Die Elfe allerdings absolvierte die Übung ohne Straucheln und landete nach einer Rolle im Spagat.
»Sehr gut, Caryellê«, sagte der Ausbilder.
»Ja, sehr gut hast du die Beine breit gemacht«, höhnte jemand, der in der Masse der Rekruten unsichtbar blieb.
»Wer war das?« Während Cary aufstand, wirbelte der Zentaur herum und betrachtete die anderen angehenden Soldaten zornig.
Doch diese rückten nur zusammen. Gelächter erklang.
»Hey, kannst du mir Nachhilfe geben? Heute Nacht in meinem Zelt?«, grölte jemand und die anderen konnten sich kaum noch halten vor Lachen.
Cary zog die Augenbinde ab und trat an ihren Platz in der Schlange. Ihr Gesicht war stoisch, doch als ihr Blick Stellas traf, spürte das Einhorn ihren Schmerz unter der kalten Oberfläche.
Zur besonderen Kraft der Einhörner gehörte ihre Fähigkeit, das Herz eines anderen Lebewesens zu ergründen. Die Mythen behaupteten deswegen, dass sie sich nur Jungfrauen zeigen würden, was natürlich nicht stimmte. Doch die Einhörner der Vorzeit hatten sich versteckt, sofern sie nicht ein Wesen reinen Herzens vor sich gesehen hatten. Sie konnten jedes Wesen durchleuchten.
Und was sie in Cary sah, veranlasste sie, vom Weg auszuscheren und sich neben die Rekrutin zu stellen.
Lestes Dryas. Die Glänzende Binsenjungfer. Eine schlanke, blaue Libelle, die wie ein fliegender Smaragd erschien. Carys Geist war ebenso wunderschön, doch nur oberflächlich. Darunter lauerte ein Raubtier. Libellen waren Spritzenprädatoren in ihrer Welt, eine Art fliegender Tiger, tödlich und präzise. Die Weibchen waren Herrscherinnen, Königinnen, die man niemals unterschätzen sollte.
Diese spezielle Libelle lebte in einer Seelenlandschaft, die Stella ebenfalls erblicken konnte. Ein großer Teich, gesäumt von dunklem Schilf unter einem grauen, stürmischen, jedoch hellen Himmel. Auf der Mitte des Teichs befand sich eine Insel. Die Trauerweide darauf hatte sicherlich einst in vielen Farben geblüht, doch sie war umgestürzt und verfallen.
Eine verlorene Liebe.
Stella wusste nicht nur, dass sie Cary vertrauen konnte, sondern auch, dass sie zu Großem fähig war, durch ihr Leid gestählt. Und dass man lieber auf ihrer Seite war als gegen sie.
Als freundete sich Stella mit ihr an.