Schwitzend eilte Tommy weiter. Der Parcours war fast beendet. Er musste nur noch über den Balken mit den schwingenden Klingen.
Er zögerte kurz und schluckte, dann packte er den Stock fester und sprang auf das Holz.
Er balancierte, so gut er konnte, und wehrte die zischenden Hindernisse ab, die rings um ihn pendelten. Etwas streifte seinen Rücken. Dann prallte etwas gegen seinen ausgestreckten Arm und beförderte ihn vom Balken und auf den Schlamm.
Er ächzte.
»Sithund! Aufstehen und weiter, nach los!«
Die Stimme ihres Lehrers riss Tommy hoch. Schlammverschmiert stolperte er über die Ziellinie. Er rieb sich die blauen Flecken von den Klingenpendeln – diese bestanden zwar aus Metall, waren aber nicht scharf. Sie hatten in diesem Jahr von Stoffpendeln zu Holz und schließlich Metall gewechselt.
Tommy hasste den Unterricht mit jedem Monat mehr, denn es wurde immer schwerer.
Karduk, ein stämmiger Zentaurenmann, musterte ihn. »Du bist schon wieder der letzte, Tommy. Du musst dich mehr anstrengen.« Dann hob der Lehrer die Stimme. »Gleich nochmal, selbe Reihenfolge!«
Frustriert reihte sich Tommy hinten ein. Alex stand dagegen ganz vorne, wie immer. Er war auch der Schnellste im Parcours und derjenige, der nicht ein einziges Mal getroffen wurde.
Tommy absolvierte die Ausbildung wie jeden Tag. Er quälte sich durch die Parcours, wieder und wieder, und ignorierte die mitleidigen Blicke seines Lehrers.
Alex war besser als er. Im praktischen Kampfunterricht war er sogar Klassenbester, und in Kriegsstrategie oder Lehre des Schattenlands war er immer noch unter den besten Fünf. Alex lernte immer und überall und er war intelligent. Tommy dagegen war nur in einem Bereich besser – in der Pause, wo sich die Note aus der Zahl der Freunde ergab, die mit ihm redeten. Er mochte seine Freunde, keine Frage, aber es wäre ihm ganz lieb, wenn er im Blick seiner Lehrer nicht nur Sorge um seine Zukunft lesen würde.
Nach dem Training war es Nachmittag und die anderen kehrten zum kleinen Dörfchen zurück. Tommy trödelte herum, bis alle gegangen waren. Nur Karduk war noch da.
»Sithund. Was machst du hier?«
»Kann ich noch ein bisschen trainieren?«
»Schon wieder?« Der Zentaur seufzte. »In Ordnung, ein paar Stunden habe ich noch.«
»Ich möchte wirklich nicht zur Last fallen«, erwiderte Tommy rasch. »Ich kann auch alleine üben.«
»Nicht nötig.« Der Zentaur grinste. »Ich habe ja Zeit. Also, nimm dein Schwert. Ich habe mir ein paar Übungen rausgesucht, die dir sicherlich weiterhelfen.«
Tommy lächelte schwach. So ruppig Karduk auch auftreten konnte, glücklicherweise hatte der Kaltblut-Zentaur ein gutes Herz. Er nahm sein ‚Schwert‘ auf, den Holzstock, und ging trotz schmerzender Muskeln in Kampfposition.
Mit einem Seufzend wandte sich Alex vom Fenster ab. Tommy war immer noch nicht zu sehen und länger konnte er es nicht hinauszögern. Er klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und legte es auf die Box, die ihnen seit einigen Jahren als Nachttisch diente.
Er trat auf den düsteren Flur, vorbei an der Lagertür, die wieder durch Kisten versperrt war, und ging ins Wohnzimmer. Es war dunkel, weil die hölzernen Läden nie zurückgezogen wurden. Es roch nach vergammeltem Essen und den Zigaretten ihrer Mutter, nach ungewaschener Kleidung und Krankheit.
»Mach zu, es wird kalt!«, rief sie auch sofort, als Alex das Fenster öffnete.
»Ich muss kochen«, widersprach er. »Der Rauch zieht sonst nicht ab.«
Wie jeden Tag! Fast ohne hinzusehen wich er der Flasche aus, die vom Sofa in seine Richtung flog. Er hatte den Besen bereits in der Hand, um die Scherben aufzufegen.
»Was gibt’s denn?«, fragte seine Mutter mit verwaschener Stimme.
»Wir haben noch Ei«, sagte Alex.
»Bäh.«
Er seufzte. Er sah das genauso. Die Eier waren bereits alt. Er müsste wieder zum Markt gehen.
Eigentlich sollte Tommy gehen. Tommy sollte ihm hier helfen! Ohne ihn wirkte das kleine Haus gleich viel düsterer und Alex war sich sicher, dass ihre Mutter viel besser gelaunt war, wenn Tommy nur in der Nähe war. Seit sein Bruder fast immer bis zum Abend wegblieb, war eine erdrückende Dunkelheit in die Hütte eingezogen.
Er stellte sich an den Ofen und entzündete das Holz. Rauch mischte sich in den Gestank des beengten Zimmers. Sein Nacken kribbelte.
Feuer hatte immer diesen Effekt auf seine Mutter und damit auch auf Alex. Ihre Mutter war im Krieg gewesen, als Schildmaid. Sie hatte den Kriegern an der Front beigestanden und so manchen Rückzug gedeckt. Alles hatte beim Angriff eines Drachen geendet, der die meisten Mitglieder ihres Kommandos getötet und sie schwer verletzt hatte. Die immer noch nässende Wunde an ihrem Bein war für den schlimmsten Gestank im Zimmer verantwortlich, doch an den Geruch hatte sich Alex längst gewohnt. Ihn bedrückten zunehmend die Bilder, die aufblitzten, wann immer seine Mutter das Feuer sah. Seine merkwürdige Kraft war nur noch stärker geworden, obwohl er seit jenem unglücklichen Vorfall mit Mari vor einigen Jahren damit aufgehört hatte, seine Freunde zu belauschen. Er wollte die Kraft verdrängen, doch sie ließ ihn nicht in Frieden.
Er hörte ferne Schreie und sah Gestalten im Feuer verbrennen. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er darum, sich auf die Eier zu konzentrieren.
Er wusste, dass es gegen die Dunkelheit in der Seele seiner Mutter kein Licht mehr gab. Selbst Tommy, diese strahlende Flamme, konnte die Finsternis nicht verdrängen.
Und Alex spürte, wie die Schatten sich in seine Seele zwängten. Er war nicht stark genug, um sie immer und immer wieder zurückzudrängen. Nicht ohne Tommy.
»Bist du bald fertig? Ich erstick hier fast«, grollte seine Mutter.
Der Rauch war nicht so schlimm, aber Alex verstand, dass sie den Erinnerungen entfliehen wollte. Das wollte er auch. Aber er kam hier nicht weg und ohne Tommy konnte er die Gedanken auch nicht von sich fernhalten.
»Verdammt, ich bin gleich so weit!«, schimpfte er.
Draußen, in der Nacht, glühten rote Augen am Waldrand.