Unsicher näherte sich Elysa den Steinbögen. Die Pforte von Umira erhob sich im Mondlicht der Wiesen, und zum ersten Mal erschien sie ihr mehr wie ein Gerippe und nicht wie die malerische Ruine, die es am Tage war. Als würde dieser Ort sich in der Nacht verwandeln.
Sehr abwegig war dieser Gedanke wohl nicht. Umira war ein Ort der Wandlung, die Mitte ihrer in zwei Reiche geteilten Welt. Wieso sollte diese Pforte sich nicht mit dem Lauf der Gestirne auch selbst wandeln?
Die höchste Magierin des Sonnenlandes straffte sich, als sie sah, dass bereits einige dunkle Gestalten im Schatten der Steinbögen standen. Sie waren also schon da.
Sie beschleunigte ihre Schritte und ihre Begleiter passten sich ihrem Tempo an.
Um ehrlich zu sein, erfüllte sie dieser ganze Auftrag mit Unbehagen. Sie hatte natürlich schon mitbekommen, dass die Königin des Sonnenlands gelegentlich Absprachen mit den Dienern der Schatten traf. Die beiden Herrscherinnen lagen zwar im Krieg, aber sie waren auch unsterbliche und übermächtige Wesen, die einzigen ihrer Art, von denen Elysa wusste, und ihre Königin hatte ihr nie Anlass gegeben, zu glauben, dass es weitere gäbe. Unter diesen Umständen war es vermutlich nicht verwunderlich, dass die Königinnen eine etwas kompliziertere Beziehung miteinander hatten. Sie bekriegten einander, doch sie tauschten auch immer wieder Gefangene aus, beendeten verlustreiche Kämpfe durch Kompromisse oder trafen eben Vereinbarungen.
Doch heute würde sie eine solche Verhandlung führen. In den knapp hundert Jahren, die sie nun schon oberste Magierin war, war das noch nie nötig gewesen, aber natürlich konnte die Königin des Sonnenlands nicht selbst zur Grenze reisen.
Es war Elysas Aufgabe.
Sie hielt kurz vor der Pforte. Die Engel in ihrem Rücken stoppten ebenfalls. Von Umira her kam ihnen jedoch ein weiterer Engel entgegen, der sich vor ihr verneigte. »Hohe Magierin Elysa.«
»Was tust du hier, Dariel?« Elysa runzelte die Stirn.
»Verzeiht, Hohe Magierin. Es gab Entwicklungen, die ein sofortiges Einschreiten erforderten.« Der Engel drehte sich leicht und deutete zur Pforte.
Elysa erblickte zwei Körper, die im Licht des Mondes mitten auf dem Platz lagen. Sie presste eine Hand vor den Mund. »Es sollte doch erst morgen so weit sein!«
Sie betrat die Pforte von Umira und beugte sich über die beiden Junge. »Sind sie … tot?«
»Nein.« Aus dem Schatten trat eine hochgewachsene Gestalt mit rotem Haar. Den Vampir erkannte sie an seiner reichen Kleidung, auch wenn sie ihn nur von Gemälden kannte.
»Graf Taidoni. Was hat das hier zu bedeuten? Wieso wurde die Vereinbarung gebrochen?«
»Sie wurde nicht gebrochen.« Beschwichtigend hob Alastair Taidoni die Hände. »Lasst es mich erklären, Magierin Blackwood.«
Elysa zögerte. Hinter dem Vampir war eine zweite blasse Gestalt erschienen, ein Junge mit schulterlangem, weißem Haar.
»Oh, das.« Alastair hatte ihren Blick bemerkt. Er wandte sich um und streckte die Hand aus, um den Jungen zu ermutigen, vorzutreten. »Dies ist mein Sohn Nepumuk. Ich habe mir erlaubt, ihn mitzunehmen, um ihn in unsere Arbeit als Vertreter der Nachtkönigin einzuweihen. Sieh es bitte als Beweis, dass hier keinerlei Betrug stattfindet, Magierin, denn ich würde ihn nie einem Risiko aussetzen.«
Elysa nickte, während ihr Blick auf dem jungen Vampir ruhte. Er schien noch nicht ganz volljährig zu sein und war damit womöglich in ihrem Alter. Nepumuk lächelte scheu, als er vortrat. Hinter ihm bewegte sich düster der Dämon, ein Nachtmahr, der ebenfalls Teil dieser Verbindung war.
»Also gut«, sagte sie und riss sich vom Lächeln des jungen Vampirs los. »Was ist geschehen?«
»Die Zwillinge waren unberechenbar«, erklärte Alastair. »Der Dunkle handelte zu früh. Und dann … ging alles schief.«
Elysa blickte auf die Kinder. Zwei Menschen, augenscheinlich, die einander wie ein Ei dem anderen glichen. Doch die Verwandlung hatte bereits eingesetzt. Die Haut des einen färbte sich gräulich, die Haare des anderen blond. Und das war erst der Beginn.
»Aber sie leben doch. Sie werden ein Erzengel und ein Nachtmahr.«
»Nicht ganz«, sagte nun Dariel. Der Engel senkte den Blick. »Es wird keinen Erzengel geben. Er hat sich geweigert.«
»Aber er wird es doch vergessen.« Fragend sah Elysa zwischen dem Engel auf der einen und den Schattenwesen auf der anderen Seite hin und her. »Und dann werden wir beide unsere Heldenkrieger haben, wie geplant. Was habt ihr denn?«
Beide, Alastair und Dariel, sahen traurig auf die Jungen.
»Er hat es geschworen«, sagte der Dämon mit tiefer, grollender Stimme. »Ein Schwur, den auch die Amnesie nicht brechen kann.« Verächtlich ruhte der rote Blick auf dem Engel. »Ihr habt eure Waffe verloren.«
»Und der andere? Der Dunkle?« Elysa konnte nicht verhindern, dass sie sich anspannte. Der Plan war gewesen, dass beide Seiten ähnlich mächtige Kämpfer erhalten würden, die den Krieg in erster Linie führen konnten, während die Fußsoldaten sich mehr zurücknehmen konnten. Ansonsten bestand die Gefahr, dass Licht und Schatten gleichermaßen untergingen.
Doch wenn sie nun ihren mächtigen Erzengel eingebüßt hatten, wer sollte den Nachtmahr bändigen?
»Der Engel hat geschworen, dass er seinen Bruder niemals bekämpfen wird.« Der junge Nepumuk trat vor. Elysas Blick hing an seinem weißen Haar. »Das heißt, sie werden sich niemals in der Schlacht gegenüberstehen. Haltet den Engel in eurer Armee. Schickt ihn an die Front, wo immer ihr ihn braucht. Und der Nachtmahr wird nicht euer Problem sein.«
Elysa atmete tief durch, während der junge Vampir sich vor ihr verneigte. Sie dankte ihm mit einem Lächeln. Er hatte dafür gesorgt, dass der neugeschaffene Nachtmahr nutzlos für das Schattenland wäre. Oder jedenfalls ähnlich nutzlos wie der gewöhnliche Engel, den sie nun hatten.
Er war edelmütig. Gutaussehend ebenfalls, obwohl das für Vampire keine Seltenheit war. Für einen Schattenländer war er erstaunlich … nett. Ob wirklich ein Monster unter seiner Oberfläche lauerte?
Elysa riss sich zusammen und sah zu den beiden Kindern. »Ein Jammer. So viele Jahre der Vorbereitung umsonst.«
»Vielleicht versuchen wir es eines Tages von Neuem«, schlug Alastair vor. »Doch vorerst sind unsere Kräfte erschöpft.«
Die Gruppen sahen einander an. Eigentlich Feinde, teilten sie heute einen herben Verlust.
Elysa atmete durch und ordnete ihr langes Haar. Es war tiefschwarz, so wie Nepumuks Kleidung, und ihr Gewand weiß wie sein Haar. Sie kam nicht umhin, darüber nachzudenken. Wie Yin und Yang verkörperten sie die Widersprüche und Gegensätze, und das stumme Geheimnis, dass es auch Gemeinsamkeiten gab – Dunkelheit im Licht und Helligkeit im Finstern.
Der Dämon in Gestalt einer schwarzen Wolke bückte sich, um den einen Jungen aufzuheben. Dariel trat zu dem anderen.
»Wie werden wir sie nennen?«, fragte Elysa. Immerhin war ein wenig von ihrem Plan geblieben, wenn auch nicht viel.
»Terziel«, sagte Dariel.
»Abarax«, sagte der Alb.
Elysa nickte. Dann wandte sie der Pforte den Rücken zu, Dariel an ihrer Seite, der den leblosen Jungen auf den Armen trug.
Als sie sich sicher fühlte, warf sie einen Blick zurück. Ein merkwürdiges Gefühl war über sie gekommen. Sie fragte sich, ob ein Treffen wie heute erneut stattfinden würde.
Ob sie Nepumuk jemals wiedersehen würde.