»Wer kann mir denn sagen, wo auf der Landkarte das Weiße Schloss liegt?«
Während die Nymphe den Blick durch das Zelt gleiten ließ, schob Naja schnell den Zettel unter seine Schiefertafel, den Katie ihm zugesteckt hatte. Er sah brav nach vorne, bis der Blick der Lehrerin weiterwanderte. Dann zog er das Papier hervor.
In der Dämmerung beim Baumhaus, stand darauf. Und: Weitergeben.
Naja sah auf. Von vorne spähte Caspar wachsam nach hinten, um sich zu vergewissern, dass der Zettel durchgereicht wurde. Najaxis nickte ihm zu und schob das Papier unauffällig zu Paski.
Sie waren sieben Kinder, die auf Sitzkissen auf dem Boden des Zeltes hockten und den Vorträgen der Nymphe lauschten. Die sonnenländische Kriegsgefangene rief gerade Surai, einen jungen Werwolf, auf, der an die Karte trat und unten auf die Mitte deutete.
»Genau, die Schlösser liegen jeweils im Herzen ihres Reiches, an der am besten geschützten Stelle. So, wer weiß denn, welcher dieser grünen Flecken der Wolfswald ist?«
»Caspar plant wohl etwas«, flüsterte Paski, der sich zu Naja herüberbeugte. »Etwas Großes!«
Naja nickte und rutschte unruhig auf seinem Kissen hin und her. Er sah zurück zum Eingang. Durch den schmalen Spalt der Tücher konnte er sehen, dass die Sonne sich noch immer nicht senkte. Und so lange würde der Unterricht hier auch andauern.
Er seufzte entmutigt. Noch ein paar Stunden lang all die geografischen Details von Sonnen- und Schattenland aufzählen! Lieber hätte er wieder gerechnet. Oder gezeichnet!
Der Himmel verfärbte sich quälend langsam. Die Sonne schien in ihrer Position festgeklebt.
Irgendwann aber war der Unterricht doch vorbei. Kaum, dass die Nymphe seufzend das Buch zugeschlagen hatte, sprangen die Kinder auf und rannten durch die Zeltbahnen auf die dunklen Wiesen hinaus.
»Los«, rief Caspar glücklich. Der junge Magier war längst zum Anführer ihrer kleinen Gruppe geworden. Im Licht des Halbmonds folgten ihm die Kinder in den Wald und erreichten bald das Baumhaus, das sie gemeinsam gebaut hatten. Caspar winkte und die Lampen oben flackerten zu seinem sichtbaren Stolz auf.
»Was hast du denn vor?«, fragte das Werwolf-Mädchen Surai neugierig.
»Ich habe einen neuen Zauber gelernt! Einen Flugzauber!«, erklärte Caspar stolz und kletterte die Leiter hinauf.
Die anderen Kinder folgten einer nach dem anderen.
»Ein Flugzauber?«, fragte Katie unsicher. »Das klingt gefährlich.«
»Das wird lustig«, widersprach Caspar selbstbewusst. »Und das ist unsere Chance, wieder an die obere Plattform zu kommen.«
»Ich weiß nicht. Die Erwachsenen haben die Leiter ja nicht ohne Grund abgemacht.«
»Wir sind jetzt groß genug, Katie«, sagte Caspar. »Wir fallen da nicht mehr runter. Also, wer will fliegen?«
Niemand trat vor. Die Kinder tauschten unsichere Blicke. Katies Ansprache hatte sie verunsichert.
Najaxis hob die Hand. »Ich kann das machen.«
»Naja! Nein«, sagte Katie.
»Das ist gefährlich«, stimmte Paski ihr zu.
»Aber ich bin leicht. Wenn es klappt, dann am ehesten mit mir.« Naja schenkte seinen Freunden ein beruhigendes Lächeln und trat dann vor Caspar auf den eingezäunten kleinen Balkon. Das Baumhaus war relativ abgeschirmt, damit auch Vampire tagsüber darin sitzen konnten. Doch es gab einen vorspringenden Balkon, dessen morsche Bretter sich unter Najas Schritten bogen.
»Bleib genau da stehen«, sagte Caspar und schloss konzentriert die Augen. Er breitete die Arme aus.
Najaxis ließ die Hände locker herunterhängen und grinste zu seinen Freunden. Dann spürte er ein Kribbeln auf der Haut. Wenig später fühlte er sich leicht. Seine Füße verloren den Kontakt zum Boden.
»Uhhh«, machte Najaxis und wackelte.
»Nicht bewegen!«, rief Caspar. Er hob die Arme an und Najaxis schwebte schneller nach oben. Durch das dichte Geäst hinauf zu der Plattform, die ihnen unzugänglich gemacht worden war.
Die Strichleiter lag zusammengerollt oben. Najaxis beugte sich vor, um sie zu erreichen, als er Schreie hörte.
Erschrocken sah er nach unten. Das Baumhaus lag schwindelerregend tief unter ihm. Und Caspar lag auf dem Boden, bewusstlos.
Naja stieß einen spitzen Schrei aus, als er plötzlich fiel. Seine Finger bekamen die Leiter zu fassen und er riss sie mit sich hinunter. Der Baum rauschte vorbei. Äste kratzten über seine Haut und peitschten in sein Gesicht.
Dann ging ein Ruck durch die Strickleiter, als sie sich spannte. Naja versuchte, sich an einer der Sprossen festzuhalten, doch sie wurden ihm aus den Fingern gerissen. Wild mit den Armen rudernd fiel er weiter.
»Aaaaaaahhhh!«
»Ich hab dich!« Plötzlich war Katie hinter ihm.
Najaxis fand sich in ihren Armen wieder. Wie die Prinzessin auf den alten Zeichnungen. Er zappelte. »Lass mich runter!«
»Mach so etwas Dummes nie wieder«, schimpfte Katie und ließ ihn los.
Die Kinder umringten Najaxis und Caspar. Der Magier kam langsam wieder zu sich und sah erschrocken zu Naja auf. »Geht es dir gut?«
»Was ist passiert?«
»Ich … es war doch zu anstrengend. Dann macht die Magie, dass man bewusstlos wird.«
»Er hätte sterben können!«, brüllte Katie.
»Es ist ja nichts passiert«, beschwichtigte Naja. Er deutete auf die Leiter, deren Ende nun neben ihm baumelte. »Und wir haben es geschafft!«
Katie drehte sich um und funkelte ihn zornig an. »Du bist so ein Idiot!«
Doch sie beruhigte sich. Wenig später lagen sie alle auf dem Rücken auf der breiten Plattform und sahen in die Sterne.
»Es ist schön, wieder hier zu sein«, gab Paski zu. Er klopfte Naja auf die Schulter. »Gut gemacht.«
»Wenn ich groß bin, will ich einen Raum mit Glasdach haben«, sagte Caspar. »Durch den man immer die Sterne sehen kann.«
»Wenn ich groß bin und meinen Besen habe«, sagte die kleine Hexe Jiska, »werde ich bis zu den Sternen fliegen. Und ich bringe euch allen einen mit.«
»Und wenn dann keine Sterne übrigbleiben?«
»Das fällt gar nicht auf.«
»Papa sagt es gibt viel mehr Sterne als Schattenländer und Sonnenländer zusammen«, unterbrach Katie die Diskussion. »Guckt mal! Man kann die gar nicht zählen.«
Paski streckte einen kräftigen Finger aus. »Eins … zwei …«
»Lasst uns etwas schwören«, schlug Naja vor und setzte sich auf. »Freunde für immer! Auch, wenn wir ganz alt sind.«
Die sieben Kinder streckten die Hände in die Mitte. »Freunde für immer.«