„Nicht so schnell!“, jammerte Louise.
Jacky packte die Hand ihrer kleinen Schwester fester und rannte verbissen weiter. Im Rennen lauschte sie auf Geräusche hinter sich. Knackten da Äste? Hörte sie das Rascheln von Blättern, die von einem rennenden Wesen gestreift wurden? War das das Trommeln von Füßen auf dem fast gefrorenen Boden?
„Jacky … wohin laufen wir?“
„Still!“
Der Berghang wurde flacher. Sie waren in den Wald eingetaucht und Jacky fehlte der Überblick über den Hügel, doch offenbar waren sie nun im flachen Gelände. Jetzt mussten sie immer geradeaus rennen. Wie viele Tage oder Wochen … das wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie nach Süden musste, dorthin, wo tagsüber die Sonne stand. Und der Norden, wo die Sonne nie war, musste in ihrem Rücken liegen.
Louise wand ihre Hand aus Jackys Griff.
Jacky wirbelte herum und packte ihre Schwester am Oberarm. „Komm jetzt!“
„Du tust mir weh!“ Louise weinte.
„Leise!“ Jacky sah sich nervös um. „Komm Lou, wir müssen weiter!“
Widerstrebend stolperte Louise hinter Jacky her. „Ich will nicht! Mir ist kalt!“
„Louise, wir müssen wegrennen!“, zischte Jacky.
„Warum?“ Louise sah sie mit großen Augen an.
„Wir müssen nach Hause!“, sagte Jacky und zerrte weiter an ihrer Schwester. Louise war so schwer!
„Aber Zuhause gibt es nicht mehr!“, sagte Louise. „Das ist weg.“
Louise hat recht. Die Erkenntnis durchfuhr Jacky wie ein Blitz. Es gab nichts. Nichts, wo sie hin konnten, kein Ziel, das sie erreichen würden. Für einen Moment wurde ihr schwindelig. Alles, worauf sie hingearbeitet hatte … alles, woran sie gedacht hatte … war weg. Fort.
Sie konnten nirgends hin.
„Ich will zurück!“ Nun war es Louise, die an Jackys Arm zerrte. „Mir ist kalt!“
„Nein!“, brüllte Jacky. Ein weiterer Blitz durchzuckte sie, diesmal aber keine Erkenntnis, sondern eine Bewegung.
Louises Weinen stoppte abrupt. Jacky blinzelte und sah auf ihre Handfläche, die sich rötete, die kribbelte und dann brannte. Dann sah sie auf Louise, die ebenfalls blinzelte, die Hand zur Wange hob … und dann begann, hysterisch zu weinen.
„Nein, nein, Lou. Es tut mir leid, ich wollte nicht … Bitte, sei leise! Lou, bitte!“
Jackys Schwester blinzelte sie aus rot verquollenen Augen an und schlug ihre Hände beiseite. Einen Moment standen beide sich gegenüber, Louise rang nach Atem. Dann drehte sie sich um und rannte in den Wald.
„Louise!“ Jacky lief sofort hinterher.
„Geh weg!“, kreischte Louise.
„Louise, komm sofort her!“ Jacky keuchte. Louise gewann trotz ihrer kürzeren Beine einen Vorsprung.
„Ich hab dich nicht mehr lieb!“, schleuderte Louise ihr mit allem Zorn an den Kopf.
„Dann geh doch!“, fluchte Jacky. „Geh zurück, wenn du lieber gefangen bist! Ich gehe ohne dich!“
Louises Kreischen wurde noch etwas lauter, aber sie hielt nicht an, geschweige denn, dass sie zurück käme. Jacky sah ihr schnaufend nach. Ihr Hals und ihre Lungen brannten.
Louise verschwand zwischen den Bäumen, doch ihr Schluchzen war noch immer im Wind zu hören.
Dann, ganz plötzlich – Stille.
Jacky hielt den Atem an, dann brüllte sie: „Louise!“
Sie rannte vorwärts, hastete den Berg hinauf. „Louise! Lou!“
Ihr Herz raste. „Lou!“
Vor ihr befand sich nichts als Schwärze … und diese Stille, die schon fast körperliche Gestalt annahm, wie ein zähflüssiger Nebel, der sich Jacky entgegenstemmte, wie eine Wand, gestaltet aus ihrer großen Angst davor, was sie dahinter finden würde.
Trotzdem kämpfte sie sich tapfer vorwärts, durch Schneewehen, stolperte über Wurzeln und ihr Gesicht wurde von peitschenden Ästen zerkratzt.
Unvermittelt stolperte sie aus dem Schutz der Bäume heraus, vor ihr befand sich ein offenes Schneefeld.
Und dort … in der Mitte … umringt von drei schwarz gekleideten, bleichen Gestalten … auf Schnee, der sich blutrot färbte …
„LOUISE!“
Jackys Stimme brach, als sie verzweifelt nach Atem rang. Die kalte Luft biss in ihre Lunge, die Tränen auf ihren Wangen brannten wie Feuer und ihre Gedanken rasten so schnell, so wild durcheinander, dass ihr schwindelig wurde.
Drei Vampire mussten ihnen gefolgt sein. Sie hätte Louise nicht aus den Augen lassen sollen. Sie hätte ihr alles erklären müssen, egal, wie sehr sie ihre Schwester damit verängstigt hätte. Sie hätte ihr die Wahrheit sagen sollen, dann wäre Louise bestimmt mit ihr geflohen und nicht umgedreht.
Jacky bemerkte kaum, dass die Vampire aufstanden und ihre Aufmerksamkeit auf das zweite leichte Opfer richteten. Sie konnte den Blick nicht von Louises bleichem Gesicht abwenden, von den blicklosen, starren Augen.
Ein Rauschen. Plötzlich war einer der Vampire heran gekommen. Jacky riss instinktiv die Arme hoch und blockte einen Biss nach ihrem Hals ab. Wut brannte heiß und rot und wie eine Faust geballt in ihrem Bauch. Sie schrie den Vampir an und trat gegen sein Bein.
Mit einem Fauchen huschte der Vampir nach hinten und Jacky stolperte, als ihr Fuß nicht aus Widerstand traf.
Sie fiel nicht in den Schnee. Stechende Schmerzen schossen durch ihren Bauch und sie wurde nach hinten geworfen. Als sie die Arme um den schmerzenden Leib schloss, spürte sie warme Flüssigkeit.
Knurrend und fauchend ragten die Vampire vor ihr auf. Kreischend trat und schlug Jacky um sich, zu panisch, um noch klar zu denken. Ihr Herz raste. Wieder und wieder fuhren die krallenartigen Finger der Vampire auf sie nieder, tiefe Schnitte durchzogen ihre Arme und Beine.
Dann huschte ein silberweißer Schatten vorbei und einer der Vampire stieß einen schrillen Schrei aus, der Jacky in den Ohren schmerzte. Die anderen zwei drehten sich ab, tiefes Knurren erklang. Ein Blinzeln – die Vampire waren fort, der Kampf tobte irgendwo, wo Jackie ihn nicht länger sehen konnte.
Seufzend ließ die den Kopf nach hinten in den Schnee fallen, in die Kälte. Tränen liefen ihr über die Wange, während sie den Namen ihrer Schwester schluchzte. Die Kälte betäubte bereits die Schmerzen.
Ein Schatten fiel auf sie und Jacky öffnete die Augen. Inzwischen war ihr warm, obwohl sie immer noch im Schnee lag. Verschwommen erkannte sie Roiden, der sich mit besorgtem Gesichtsausdruck über sie beugte. Seine Hand an ihrer Wange fühlte sich unangenehm heiß an.
„Jacky … kannst du mich hören?“
Sie wandte den Blick ab. Sie wollte nichts und niemanden hören. Nie mehr.
„Jacky! Bleib bei mir!“
Roiden beugte sich über sie. Jacky stöhnte, als er seine Arme unter ihren Körper schob und sie anhob. Sie wollte sich wehren, doch sie konnte nicht einmal sprechen.
Roiden knickte unter der Last ein. Auch er war verletzt.
„Jacky!“, bettelte er. „Bitte, Jacky …“
Dann spürte sie unvermittelt seine Lippen auf ihren, warm, weich und feucht, sein Bart kratzte sie.
„Bleib bei mir!“, wisperte er.
Jacky schloss die Augen und atmete aus … einfach loslassen … es wäre so leicht!
Feuer durchfuhr ihren Körper, ausgehend von ihrer Schulter. Es brannte heißer als die Kälte gebrannt hatte. Jacky fuhr einen Moment auf und riss die Augen auf, sie schlug um sich.
Ein Wolf beugte sich über sie, die Fänge in ihrer Schulter vergraben. Fieber überrollte sie in Wellen.
Sie stieß einen langen, frustrierten Schmerzensschrei aus, bevor sie in eine neue Dunkelheit sackte.
Und fiel.