Die Drachen, welche in den Diensten der Vampire standen, lebten in den Kratern und zerklüfteten Bergen, die sich überall im Eisland verteilten. Ihre Herren gaben den Feuerwesen wenig, um der Kälte zu trotzen. Nur das nötigste, um die Diener in ihren Slums am Leben zu erhalten.
Merkanto war selten hier gewesen. Von seinen wenigen Besuchen wusste er noch ungefähr, wo Kendreek wohnte. Doch die schlammigen Straßen, aufgeweicht von geschmolzenem Schnee rings um die vielen Feuerstellen, veränderten ihren Lauf ständig. Die Hütten hatten Wände aus Stoff, dünnen Holzplatten und seltener Metall, und sie waren so wandelbar wie der Zug der Wolken über ihnen. Die Höhlen blieben bestehen, doch diese dienten in erster Linie als Lager für die wichtigeren Dinge – nicht als Unterkünfte.
Misstrauische Blicke musterten den Magier in den förmlichen Roben, der hier fehl am Platz wirkte. Aus dunklen Ecken erklang leises Knurren.
Die Drachen hier waren verstoßene, keine der mächtigen Feuerdrachen. Es waren kleine, verkrüppelte Wesen, selten größer als ein Pferd. Viele waren auch Drachlinge wie Kendreek, oder Golems, Funkenwesen, Echsenmenschen und ähnliches. Zunehmende Feindseligkeit schlug Merkanto entgegen.
Als er in eine weitere Gasse einbog, traten ihm plötzlich zwei Gestalten in den Weg. Ein großer, trollartiger Golem mit einer Haut aus feuerrotem Lehm, und neben ihm ein gelbgeschuppter Drachenmensch.
Merkanto stoppte und sah zurück. Dort traten drei schlankere Gestalten vor und versperrten das Ende der Gasse.
„Was willst du hier?“, grollte der Drachling.
„Ich … suche jemanden. Kendreek.“ Merkanto hob als Zeichen des Friedens die Hände. „Wisst ihr, wo er ist? Er ist ein Drachling, grüne Schuppen, goldene Augen …“
„Und was willst du von diesem Kendreek? Braucht Nepumuk wieder ein Opfer für eine Jagd?“
„Nein! Nein. Ich möchte nur mit ihm sprechen.“
„Dann steckt er in Schwierigkeiten.“
„Nein, ich …“
Der Drachling ließ Merkanto nicht ausreden. „Jedenfalls täuscht du dich, wenn du glaubst, wir würden dir einen der unseren ausliefern.“
Hinter sich hörte Merkanto ein Fauchen, und Hitze schlug ihm in den Nacken. Die drei in seinem Rücken machten sich kampfbereit.
„Ich will wirklich nur …“
Schnelle Schritte erklangen am Ende der Gasse, bevor ein atemloser Drachling um die Ecke bog. „Lasst ihn in Ruhe!“
„Kendreek!“, rief Merkanto erleichtert.
Der Grüngeschuppte keuchte nach seinem Sprint. „Rührt ihn nicht an.“
Irritiert sah der andere Drachling zwischen ihnen hin und her. „Verstehe … kommt, ziehen wir ab.“ Auf seinen Wink hin traten die drei schlanken, elfenartigen Funkenwesen an Merkanto vorbei und die fünf verzogen sich.
„Das war ja mal in letzter Sekunde.“
„Was tust du hier?“, grollte Kendreek. „Noch dazu alleine. Sie kennen dich!“
Merkanto trat auf den Drachenmenschen zu. „Ich habe dich gesucht.“
Kendreek schwieg und sah mit trotzigem Ausdruck auf Merkanto hinunter.
Call me a sinner, call me a saint,
tell me it’s over, I’ll still love you the same.*
„Ich weiß, du willst nichts mehr mit Vampiren zu tun haben.“ Merkanto streckte zögerlich, fast ängstlich die Hand und legte sie auf Kendreeks Wange. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht gegeben habe, was du wolltest.“
Kendreek legte seine raue Hand auf Merkantos. „Du wirst deine Arbeit doch nicht einfach so aufgeben.“
„Ich liebe diese Arbeit“, gestand Merkanto. „Aber dich liebe ich auch. Ich wünschte, ich könnte beides haben. Aber wir können einen Weg finden, hörst du?“
Kendreeks Augen wurden eine Nuance dunkler.
„Wenn ich nur noch einige Jahre durchhalte, steht mir eine weitere Beförderung in Aussicht. Dann muss er mich der Königin empfehlen und ich kann um mein eigenes Reich bitten“, platzte es aus Merkanto heraus. „Ich könnte weg von Nepumuk. Wir könnten uns eine Heimat aufbauen, irgendwo, wo es warm ist.“
„Das ginge?“ Kendreek war wie erstarrt.
„Vielleicht könnte ich sogar Stratege bleiben, in den Diensten eines anderen. Aber selbst wenn nicht – das wäre mir egal.“ Es war nicht die ganze Wahrheit. Merkanto lebte für die Taktik, er würde sich nicht komplett fühlen ohne diesen Teil von ihm. Doch Kendreek war ihm wichtiger. Und für den Drachling war es zu schmerzhaft, im Reich der Vampire zu bleiben – zu viele Freunde und Familienmitglieder hatte er durch sie bereits verloren.
Die Hand des Drachenmenschen glitt an Merkantos Fingern herunter und schloss sich um sein Handgelenk. „Dann gibt es etwas, das ich dir vorher zeigen muss. Komm.“
Er zog Merkanto mit sich, der Magier folgte. Es ging durch die Straßen bis zu einer der vielen Bruchbuden, die direkt neben einem Höhleneingang lag. Zu Merkantos Erstaunen trat Kendreek in die Höhle.
„Du magst doch diesen Grafensohn, Iljan.“
„Ja. Er ist immer noch so stur und wehrt sich gegen seinen Vater.“
„Willst du ihn zurücklassen?“
Merkanto schwieg. An dieser Frage war er bisher gescheitert. Er würde sich furchtbar fühlen, Iljan bei diesem Monster Nepumuk zurückzulassen.
Aber würde Kendreek zulassen, dass Iljan mit ihnen käme?
„Ich habe nämlich auch jemanden, den ich beschützen will“, offenbarte Kendreek und holte tief Luft, ehe er eine Feuerkugel ausstieß, die vor ihn schwebte und sich drehend die Höhle erhellte.
Während der Drachling sich darauf konzentrieren musste, das Licht nicht erlöschen zu lassen, konnte Merkanto sich in der Höhle umsehen und erblickte einen kleinen, roten Drachen, der zusammengerollt in einer Ecke der Höhle schlief, unter einer Wand, in die Zeichnungen von Sonnenlanddrachen gekratzt waren. Ausgerechnet Sonnenlanddrachen. Merkanto wusste sofort, was das bedeutete.
Es war ein Feuerdrache, etwas kleiner als ein Pferd, mit schwarzen gewundenen Hörnern und großen Augen, in denen sich das Licht des Feuers spiegelte.
Die Flamme erlosch.
„Das ist Askook“, sprach Kendreek, der Merkantos Hand noch immer hielt. „Die Vampire haben sein Ei vor einigen Wintern mitgebracht und ich habe … ich habe ihn aufgezogen, mehr oder weniger. Ich war dabei, als er geschlüpft ist.“
„Askook“, wiederholte Merkanto.
„Wenn wir fliehen, dann nur mit ihm“, stellte Kendreek fest. „Und meinetwegen dann eben auch mit diesem Vampir.“
„Iljan wird dir gefallen“, versicherte Merkanto ihm. Und nein, Askook lassen wir nicht zurück.“
Kendreek zog ihn an sich. In der Finsternis konnte Merkanto seinen Freund nur fühlen: Seinen warmen Körper, seine kräftigen Arme, sein Kinn auf seinem Kopf. Er schloss die Augen und atmete den rauchigen Duft des Drachlings ein.
„Versprichst du es mir?“, fragte Kendreek leise.
„Ich schwöre es dir. Nur noch ein paar Jahre, dann sind wir zusammen.“
I’ll always keep you inside,
You healed my heart and my life …
And you know I’ve tried.
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*»Call me«, Shinedown