»Kannst du dir das vorstellen? Er ist einfach gegangen. Paski weiß doch, wie viele im Krieg sterben.« Naja stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und ließ den Kopf hängen. »Wieso wirft er sein Leben so weg?«
»Er wirft sein Leben nicht weg«, widersprach seine Mutter.
»Aber er riskiert es!«
»Die Hälfte schafft es zurück nach Hause.«
»Das sind hauptsächlich die Vampire. Der hohe Adel. Von uns normalen Leuten ist es eher jeder zehnte.«
Die Menschenfrau drehte sich um. Ihr Haar war ergraut, und tiefe Linien in ihr Gesicht gegraben. Ihre Augen waren blass geworden, nachdem sie Jahre in der schlecht erleuchteten Hütte gewohnt hatte.
Jetzt legte sie das Geschirrtuch ab, mit dem sie die Teller getrocknet hatte. »Ich sagte nicht, dass er überlebt. Ich sagte, dass er sein Leben nicht wegwirft. Er setzt es für unsere Heimat ein. Damit andere in Sicherheit leben und über den Krieg jammern können.«
Najaxis sah seine Mutter an. »Aber es ist nicht gerecht. Paski sollte auch in Sicherheit leben dürfen.«
»Warum interessiert es dich so? Ihr habt doch seit Jahren kaum gesprochen.«
»Es interessiert mich halt. Er war mal mein bester Freund.« Naja sah aus dem Fenster. »Und jetzt geht er, um für nichts und wieder nichts getötet zu werden.«
»Du redest wie ein Deserteur.«
»Vielleicht bin ich sogar ein Deserteur.« Trotzig sah Naja auf. »Ich will mein Leben nicht für einen sinnlosen Krieg einsetzen! Er sollte beendet werden.«
Seine Mutter atmete tief durch und trat ans Fenster. Einen Moment kam es Naja so vor, als wollte sie die Vorhänge vorziehen, damit niemand die verräterischen Gedanken von außen sehen konnte.
Doch dann drehte sie sich um und die Kälte in ihrem Blick ließ seinen Atem stocken.
»Und was fängst du stattdessen mit deinem Leben an? Das ganze Dorf redet über dich. Denkst du, ich würde es nicht mitbekommen? Du wanderst von einem Bett zum anderen, statt zu arbeiten. Ein Taugenichts. Ein Kriegsdienstverweigerer. Ein … ein Inkubus.«
Wie erstarrt sah Naja zu der Frau auf. Mit einem Mal kam sie ihm fremd vor, doch es war eher, als wäre eine Maske gefallen. Darunter kam Hass zum Vorschein.
»Mutter …?«
»Du bist genau wie dein Vater«, warf sie ihm mit eisiger Stimme vor.
»Dad? Aber er … ist im Krieg gefallen …«
»Ja. Und davor war er ein Rumtreiber. Er hat noch andere Kinder außer dir, und wie bei mir ist er bei keiner Frau geblieben.«
»Du sagtest doch …«
»Oh, ja, Märchen haben dir schon immer gefallen.« Die Fremde in Gestalt seiner Mutter lachte rau auf. »Nein, er war keiner der tragisch Gefallenen. Und kein liebender Ehemann und Vater. Ich bezweifle, dass er überhaupt von deiner Existenz wusste. Wenn, dann war es ihm völlig egal, wie bei allen seinen Bräuten und Bastarden.«
Völlig verdattert starrte Najaxis die Frau an. »Du … du hast geweint, als die Nachricht von seinem Tod kam.«
»Freudentränen, mein Junge. Weil er wenigstens den Anstand besessen hatte, für sein Land zu sterben. Ein passendes Ende für einen wie ihn.«
Und ein passendes Ende für dich. Sie sprach es nicht aus, doch die Worte hingen greifbar in der Luft. In ihrem Blick. Najaxis fand keine Zuneigung darin, nicht einmal Mitleid.
»Mutter …«
»Weißt du, als du noch klein warst, da hatte ich Hoffnung, dass du normal werden könntest. Ein anständiger Junge. Aber die Bösartigkeit liegt dir im Blut. Du bist als Inkubus geboren und das wirst du auch immer bleiben. Du bist ein Monster.«
Langsam stand er auf. Er hatte sich in die Hütte geflüchtet, um den Soldaten zu entgehen. Doch unwissentlich war er in etwas viel Furchtbareres geraten.
Er wollte irgendwas sagen. Halb hoffte er, dass sich das alles als furchtbarer Scherz herausstellen würde. Seine Mutter würde lachen, ihn in den Arm nehmen und versprechen, dass sie nichts davon so gemeint hatte.
Doch ihre Augen blickten ihn so voller Abscheu an … und er wusste, dass sie jedes einzelne Wort auch so meinte.
The light on the horizon was brighter yesterday.
With shadows floating over, the scars began to fade.
We said it was forever but then it slipped away.
Standing at the end of the final masquerade.
The final masquerade …*
Womöglich hatte sie recht. Er dachte zurück an die Blicke, die ihm allein heute durch das Dorf gefolgt waren.
Der Schmerz enttäuschter Hoffnung in Jiskas Blick … die Eifersucht in Caspars Augen … Surai, die ihn nicht einmal ansehen konnte, und Jumo, der verzweifelt versuchte, seine Schwester zu schützen … Paski, der keinen Grund sah, sein eigenes Leben zu schützen …
Seit Katies Tod waren seine Freunde Najas Anker gewesen, doch er hatte nicht darauf geachtet, wen er mit sich in die Tiefe riss. In einem Strudel aus Schuldgefühlen hatte er sich seinem Erbe als Inkubus ergeben. Und in der Folge die Gruppe ihrer Freunde vollständig zerstört.
Er stand auf. »Ich werde gehen.«
»Wohin?«
»Ich weiß nicht. Weg. In den Krieg.« Naja sah auf. Seine Mutter wirkte überrascht, aber nicht gewillt, ihn aufzuhalten. Er nahm seinen Beutel auf, der noch neben der Tür lag. »Leb wohl.«
Sie erwiderte nichts. Er öffnete die Tür und trat hinaus.
Inzwischen senkte sich die Sonne. Ein einzelner Lichtstahl stach über die schwarz gefärbten Hügel in seinen Blick.
Er wusste selbst nicht, wohin er sich wenden sollte. Vermutlich wäre es das einfachste, zu den Soldaten zu gehen und … wenigstens noch etwas Anstand aufzubringen und für sein Land zu sterben.
Ja, das wäre wohl das einzige, was er noch tun konnte.
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*»The final Masquerade«, Linkin Park