Bei seinem ersten Besuch war er sehr höflich und fast schon kleinlaut. Er entschuldige sich bei Jacky und fragte, ob sie mit ihrem Zimmer glücklich wären, ohne ihr in die Augen sehen zu können. Jacky war völlig überfordert. Dass ihr Gefängniswerter sich so verhielt, konnte sie nicht einordnen … sein Kuss … inzwischen schämte sie sich für ihre Reaktion, doch sie konnte das Geschehen auch nicht einfach so ansprechen. Sie spürte, dass es zwischen ihnen stand wie eine Mauer. Doch was befand sich hinter dieser Mauer? Was hielt Roiden von ihr?
Zuerst stieß jeder Gedanke, dass der Werwolf mehr in ihr sehen könnte, sie ab. Er hatte sie entführt, war vermutlich mitverantwortlich für den Tod ihrer Eltern und hielt sie und Louise nun hier gefangen. Wie konnte er sich erdreisten, überhaupt daran zu denken, sie zu küssen? Geschweige denn, es zu tun?
Doch dann gingen ihre Gedanken in eine neue Richtung. Wenn Roiden sie mochte … konnte das nicht auch von Vorteil sein? Könnte sie sich sein Vertrauen erschleichen? Der Raum, in dem sie mit Louise untergebracht war, bot keine Fluchtmöglichkeit – das hatte sie gleich am zweiten Tag ausführlich ausprobiert. Doch sie wollte nicht hier bleiben, sie wollte nach Hause. Und der Weg dorthin führte wohl über Roiden.
Jacky bekam ein bisschen Angst vor sich selbst. Doch sie wusste, dass es sein musste.
Als Roiden wieder kam, diesmal mit einem Abendessen für sie beide, lächelte Jacky ihn freundlich an, als er den Raum betrat.
„Hey, Roiden … ich habe mich noch gar nicht bedankt.“
Er blieb wie angewurzelt stehen und sah sie an, so sehr überraschte ihn ihr schlagartig verändertes Verhalten.
„Du hast mich gerettet. Ich weiß gar nicht, warum die Leute im Kerker so böse auf mich waren“, fuhr Jacky fort. Sie hatte das Gespräch in ihrem Kopf bestimmt tausend Mal geführt. „Du hast mich und Louise da raus geholt.“
„Natürlich. Ich konnte euch ja nicht sterben lassen.“
Es lief Jacky eiskalt den Rücken herunter. Sie starrte Roiden sprachlos an, schließlich flüsterte sie: „Die … hätten mich getötet?“
Roidens Gesichtszüge entgleisten. Er kam auf sie zu und blieb kurz vor ihr wieder wie angewurzelt stehen. Dann ging er auf die Knie, obwohl Jacky sich sicher war, dass er sich neben sie hatte setzen wollen.
„Ich wollte dich nicht erschrecken. Tut mir leid, Jacky … Menschen sind manchmal zu furchtbaren Dingen fähig, wenn sie wütend sind.“
Jacky brach in Tränen aus. Alle Pläne, die sie für diesen Moment gehabt hatte, brachen in sich zusammen. Sie wäre fast gestorben? Erneut? Nachträglich zitterten ihre Hände.
Roiden setzte sich nun doch neben sie auf das Bett und legte zaghaft einen Arm um ihre Schultern. Jacky ließ zu, dass er sie an sich drückte. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Zu lange schon hatte sie für Louise stark sein müssen. Es tat gut, sich einmal fallen zu lassen. Auch, wenn sie in die Arme eines Werwolfs fiel. Das wurde ihr erst nach einer Weile bewusst und sie setzte sich ruckartig auf und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Roiden zog den Arm zurück und wandte betreten den Blick ab. „Tut mir wirklich leid. Hör mal, Jacky … du hast uns sehr geholfen, indem du uns gesagt hast, wer sein Essen nicht nimmt. Ich würde dir gerne dafür danken. Gibt es etwas, das du dir wünscht? Fehlt dir oder deiner Schwester etwas?“
Schniefend wischte sich Jacky die Augen und bemühte sich, sich an ihren ursprünglichen Plan zu erinnern. Konnte sie es wagen? Sie zögerte einen Moment.
„Weißt du“, sagte sie dann, allen Mut zusammennehmen. „Ich würde gerne mal wieder den Himmel sehen. Die Sonne oder die Sterne …“ Sie sah, wie sich Roidens Gesicht verfinsterte und schluckte. „Ein Fenster würde mir schon reichen. Und es muss nicht sein.“
„Nein, schon gut“, unterbrach Roiden sie. „Ich habe gefragt, oder nicht? Ich werde mit Vater sprechen.“
Damit erhob er sich und verließ das Zimmer, was Jacky ganz recht war. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken immer noch durcheinander. Seufzend stand sie auf, um das Essen für Louise kleinzuschneiden.
Drei Tage später war sie im Sonnenschein.
Das Licht auf ihrer Haut und die Wärme taten nach der langen Zeit im Kerker so unendlich gut. Jacky schloss die Augen und drehte ihr Gesicht dem leuchtenden Himmel zu. In ihrer Hand fühlte sie Louises kleinere Hand. In diesem Moment fühlte sie sich, als ob sie fliegen könnte. Daran änderte auch die Anwesenheit von Ereshin und Roiden nichts.
Beide Werwölfe standen dicht hinter ihnen, jederzeit bereit, eine Flucht im Keim zu ersticken. Jacky wusste, dass sie sich keinen Fehler erlauben durfte.
Sie hielt Louise weiter fest und sah sich zuerst einmal um.
Sie standen auf einem Berghang knapp über der Waldgrenze. Um sie herum gab es nur hohe, düstere Tannen, die Jacky auch den Blick auf das Umland verwehrten. Hinter ihnen lag, verborgen in einer geräumigen Höhle, der Eingang zum Reich der Werwölfe. Auf dem Weg nach oben waren durch besser ausgebaute Tunnel gekommen. Die Bereiche der Gefangenen lagen tief im Berg und waren nur über einen zuwegslosen, streng bewachten Tunnel zugänglich. Doch weiter oben, sozusagen neben dem Tunnel, mussten sich die Wohnhöhlen befinden. Roiden hatte seinen Vater dazu gebracht, Jacky und Louise durch diese schöneren Tunnel zu führen, deren Wände und Decken mit Holz ausgekleidet waren und wo es wunderschöne Gaslampen gab, mit Stoff bezogene Möbel und Höhlen voller dunklem Wasser und Schlamm. Für Werwölfe sicherlich ein Paradies, aber Jacky atmete erst durch, als sie im warmen Sonnenlicht stand und die frische Luft atmen konnte.Der Wind strich über ihr Gesicht und durch ihre Haare.
„Dürfen … können wir ein bisschen gehen?“, bat sie schüchtern. Sie rechnete damit, dass Ereshin ablehnen würde, doch zu ihrem Erstaunen ließ sich der Werwolf von einem flehenden Blick Roidens erweichen.
„Bergauf“, sagte Ereshin knapp und verwandelte sich vor ihren Augen, innerhalb eines Augenblicks, in einen schneeweißen Wolf. Er kam Jacky kleiner vor als bei dem Angriff auf ihr Dorf. Trotzdem war sie sich absolut sicher, dass sie ihn gesehen hatte.
Roiden wurde zu einem noch kleineren, braunen Wolf und lief hechelnd an Jackys Seite. Irgendwie sah er aus wie ein freundlicher Hund. Louise, die die Ereignisse nicht verstand, quiekte vergnügt und lief hinter Roiden her, der nun etwas schneller bergauf lief.
Jacky folgte ihrer Schwester auf den Fuß, geriet aber bald aus der Puste. Sie merkte, dass Ereshin mit federnden Schritten neben ihr lief. Er behielt sie im Blick, damit sie nicht umkehren und fliehen konnte.
Sie schenkte dem weißen Wolf ein trockenes Lächeln. „Ohne Louise gehe ich nirgendwo hin.“
Der Wolf blinzelte mit den Augen und schien amüsiert. Trotzdem wich er ihr nicht von der Seite, bis sie den Berggipfel erreicht hatten. Dort lag Roiden in Wolfsform auf dem Boden und Louise hatte sich vertrauensvoll an ihn gekuschelt.
„Louise!“, entfuhr es Jacky. „Du kannst doch nicht einfach … nicht am Fell ziehen, hörst du? Und wenn der Wolf weg will, nicht festhalten.“
Louise sah sie an und legte den Kopf schief. „Wolf?“
Ereshin trat, plötzlich als Mensch, neben Jacky. „Roiden lässt ausrichten, dass es ihm nichts ausmacht. Und du sollst dir keine Sorgen um deine Schwester machen.“
Jacky merkte, wie sie rot wurde. Tatsächlich war Louises Sicherheit ihre größte Sorge gewesen. Immerhin kuschelte ihre Schwester sich an einen Werwolf!
Doch Louise schien wirklich unbesorgt. Jacky sah sich um, konnte aber zu ihrem Leidwesen nicht viel mehr als Nebel, Wolken und die Spitzen der Tannen unter sich erkennen. Es war eisig kalt und sie fröstelte, als sie an Zuhause dachte. Das Dorf war nun so weit weg. Ob sie jemals zurück kommen könnte?
Sie warf einen Blick in den Himmel. Immerhin konnte sie gut erkennen, wo Süden lag. Um nach Hause zu kommen, würde sie immer nur nach Süden rennen müssen.
Sobald sich eine Chance zur Flucht ergab.
„Ich dachte, ihr seid immer … naja, wilde Bestien.“ Sie sah Ereshin fragend an, unsicher, ob ihre Frage vielleicht zu unsensibel war oder ob er merkte, dass sie ihn aushorchen wollte.
„Nur bei Vollmond“, sagte Ereshin ruhig. „Zu jeder anderen Zeit sind wir nicht viel anders als Gestaltwandler … Cereceri heißen sie, wie ich glaube, in eurem Land.“
Jacky zuckte die Schultern. Sie hatte noch nie von Cereceri gehört.
Es blieb bei den Ausflügen.
Für Louise waren sie das allergrößte. Jackys kleine Schwester quietschte jedes Mal vor Freude, wenn Roiden kam, mit dem Schlüsselbund winkte und sie fragte, ob sie nicht etwas unternehmen wollten.
Etwas unternehmen. Das waren seine genauen Worte und er lächelte dabei wie ein kleine Junge. Für ihn war es eine Abwechslung in seinem abwechslungsreichen Leben, manchmal auch eine Pflicht, die er sich auferlegt hatte. Für Jacky waren es kostbare Momente der Freiheit.
Es wurde kalt, der Winter zog ins Land und Roiden legte bei den Ausflügen seinen Arm um ihre Schulter. Später hielt er ihre Hand. Ereshin kam nur noch selten mit, doch wenn sein Vater nicht dabei war, wurde Roiden nervös und wachsam. Obwohl Jacky sich tapfer in Geduld übte, konnte der junge Werwolf ihnen nicht vertrauen. Nicht vollständig – er durfte es nicht.
Es hätte trotzdem eine schöne Zeit sein können. Jacky und Louise lebten im Luxus. Roiden gab sich Mühe, wenigstens zwei Mal in der Woche mit ihnen nach draußen zu gehen. Wenn es Vollmond war, blieben sie manchmal auch eine Woche lang eingesperrt, zu anderen Zeiten gingen sie manchmal täglich spazieren. Ereshin ließ Sonnenlandspeisen herbeischaffen, und allerlei bekannte Spielzeuge von Zuhause. Roiden zeigte ihnen die ganzen Ausmaße des Wolfsbaus, verbrachte klare Nächte auf dem Berggipfel mit ihnen und setzte sich sogar dafür ein, dass Jacky und Louise mit auf die Märkte gehen und einkaufen durften. Sie bekamen etwas Geld von Ereshin. Eigentlich fehlte es ihnen an nichts.
Eigentlich. Wären da nicht die Nächte, die Louise weinend und wach verbrachte. Wäre da nicht diese Sehnsucht und der Schmerz über den Verlust ihrer Eltern, der Jacky immer wieder einholte, selbst, wenn sie Hand in Hand mit Roiden spazieren ging und Louise lachend durch den Schnee tollte.
Wären da nicht die Gedanken an eine Flucht, die ihr im Kopf herum spukten, und wäre da nicht Roidens Wachsamkeit.
Sie waren immer noch Gefangene. Jacky fühlte sich manchmal wie ein Spielzeug, Roidens Lieblingsspielzeug. Sie wusste, dass sie das für sich nutzen musste. Wenn sie langweilig werden würde, wären ihre Freiheiten fort.
Das war alles, woran sie dachte. Sie nahm sogar allen Mut zusammen und küsste Roiden, damit er sie niemals satt haben würde und sie niemals unter der Erde sterben musste.
Nach außen hin war ihr Leben perfekt. Innerlich lag Jacky in Scherben.
Ihre Chance ergab sich paradoxerweise, als nicht nur Roiden, sondern auch Ereshin sie begleiteten.
Roidens Vater war inzwischen ebenfalls aufgetaut. Er schien Jacky ehrlich zu schätzen. Während Roiden mit Louise spielte und dabei immer wieder schmachteten Blicke auf Jacky warf, die ihr natürlich nicht entgingen, konnte sie endlose Gespräche mit Ereshin führen. Er interessierte sich für ihr Leben im Sonnenland und ihre Ansichten, war aber gleichzeitig mitfühlend, wenn die Erinnerung sie zu sehr schmerzte, und so freundlich, schwierige Gedanken für sie in einfache Worte zu verpacken.
Sie diskutierten gerade über den Sinn einer Moral in der Gesellschaft. Ein schwieriges Thema, bei dem Ereshin humorvoll die Rolle des Advocatus Diavoli übernahm.
„Es ist falsch, jemanden zu töten“, sagte Jacky.
„Aber wenn er etwas hat, das ich will? Das ich brauche? Wieso soll ich es mir nicht nehmen, wenn ich kann?“, fragte Ereshin mit gespielter Naivität. Ihm machte diese Rolle Spaß, und er brachte Jacky oft an ihre argumentativen Grenzen.
„Weil … weil der andere auch leben möchte“, stammelte sie.
„Was interessiert mich denn der andere?“ Verwundert hob Ereshin eine Augenbraue. „Ich bin stärker als er. Sein Zeug kann mir gehören. Wieso sollte ich darauf verzichten?“
„Weil es vielleicht noch stärkere als dich gibt“, meinte Jacky. „Und du willst nicht, dass sie dir dein Zeug nehmen!“
„Guter Punkt, sehr guter Punkt!“, lobte Ereshin, bevor er sich wieder in seine Rolle fügte: „Das ist doch ein normales Risiko. Fressen oder gefressen werden. Und überhaupt: Nur weil ich verzichte, müssen die stärkeren das nicht tun. Wenn überhaupt, hilft mir das Zeug des Schwächeren-“
Mitten im Argument brach er ab und sah nach vorne. Seine Nase und Mudnwinkel zuckten, selbst in menschlicher Form.
„Vater!“, rief nun auch Roiden alarmiert. Er und Louise waren ein Stück vor ihnen. Der junge Werwolf zog Jackys Schwester zu sich und eilte dann zu seinem Vater.
„Ich rieche es auch“, sagt Ereshin. Er packt Louise und schiebt sie in Jackys Arme. „Pass auf die Mädchen auf. Ich regele das!“
„Vater …“, stammelt Roiden.
„Das ist ein Befehl!“, knurrt Ereshin. Im nächsten Moment ist er ein Wolf. Irgendwie kommt er Jacky kleiner vor als je zuvor.
Roiden umfasst ihren Arm und zieht sie mit sich. Jacky zieht Louise hinterher.
„Was ist denn los?“, stammelt sie.
„Vampire!“, zischt Roiden, der immer wieder nervös zu seinem Vater sieht. „Verflucht, und es ist Neumond!“
Er lässt Jacky los und erstarrt plötzlich. Als sie sich umdreht, sieht sie, wieso: Fünf scheinbar menschliche Gestalten in schwarzer Kleidung treten dem Wolf entgegen.
„Vampire?“, stammelt Jacky. „Im Sonnenlicht?“
Roiden antwortet nicht. Er kaut auf seiner Unterlippe und beobachtet, wie die fünf Gestalten den weißen Wolf einkreisen.
„Komm schon, Paps“, murmelt Roiden. „Lass das blöde Revier und komm!“
Über die Entfernung kann Ereshin ihn jedoch nicht hören. Jacky zieht Louise an sich. Roidens Nervosität greift auch auf sie über.
Die fünf Gestalten hatten den Wolf jetzt umringt. Alle sechs duckten sich wie zum Sprung, der Wolf und die Vampire. Jacky konnte das Knurren bis hierhin hören.
Roidens Blick huschte zwischen den Schwestern und seinem Vater hin und her. Er atmete schnell und flach und seine Hände öffneten und schlossen sich.
Jacky zog Louise fester an sich und sah mit großen Augen zu Ereshin. Einer der Vampire sprang ihn an. Es ertönte ein Japsen, dann ein spitzer Schrei von dem Vampir, der zurücktaumelte, offenbar gebissen. Gleichzeitig sprangen aber die vier anderen Blutsauger vor. Der Wolf wurde von einem gepackt und an den Boden gedrückt. Schreie, Knurren und schließlich ein hohes Jaulen erklangen auf der Bergflanke.
„Vater!“, schrie Roiden und traf endlich eine Entscheidung. Er sah Jacky an. „Lauft!“
Dann sprang der Werwolf auf seinen Vater zu.
Jacky brauchte einen Moment, um es zu realisieren. Die kalte Luft, die ihr in die Lunge fuhr, als sie einatmete, hatte noch nie so scharf und stechend geschmeckt.
Freiheit. Roiden hatte sie aus den Augen gelassen. Er vertraute ihnen.
Sie waren frei!
„Komm!“
Sie nahm Louises Hand und rannte bergabwärts, nach Süden.