Merkanto starrte auf das Portrait, vor das ihn der weißhaarige Vampir gezerrt hatte. Auf der Leinwand war ein Junge in Öl gebannt. Blondes, schulterlanges Haar, blasse Haut, die gleichen, roten Augen wie der Vampir neben ihm. Während Merkanto das Bild musterte, kam er nicht umhin, zu denken, dass der Junge sich in der förmlichen Kleidung unwohl fühlen musste.
Woher kam diese Vorstellung? Der Frack war maßgeschneidert, das Gesicht des Blonden friedlich und entspannt. Aber …
Es passt nicht zu ihm. Iljan ist kein Graf.
„Iljan …“, murmelte Merkanto.
„Mein Sohn“, bestätigte der ältere Vampir. „Woran erinnerst du dich noch?“
„Iljan … dann seid Ihr … Nepumuk.“
„Nepumuk Aramis Andreji Taidoni“, leierte der Weißhaarige gelangweilt herunter. Seine Hand mit den langen Nägeln bohrte sich in Merkantos Schulter. „Wo ist mein Sohn?“
Merkanto runzelte die Stirn. „Er war … unglücklich …“
Der Trank wirkte noch nach und drohte, die Gedanken zu erfassen, die ihm durch den Kopf gingen. Es fiel ihm schwer, logische Schlüsse zu ziehen, und er wünschte sich etwas zu schreiben. Es wären nur noch ein paar Minuten, bis sein Geist sich erholt haben sollte.
Obwohl ihm eine lange Rast lieber wäre, doch das hier schien wichtig zu sein. Der junge Sohn des Grafen war verschwunden. Wer ihn entführt hatte, konnte nur Merkanto wissen. Die Sorge des Vaters verstand er zu gut. Iljan war Nepumuks einziger Sohn, das wusste er inzwischen wieder.
Er konzentrierte sich auf das Gesicht des Jungen. Der Vampir sah ernst aus, obwohl das nicht zu ihm zu passen schien. Sein üblicher Blick war … anders gewesen.
„Er war unglücklich“, murmelte Merkanto nachdenklich. „Er wollte kein Vampir sein.“
„Dieser Narr!“, grollte Nepumuk. „Und jetzt ist er weggelaufen.“
„Er fühlte sich allein.“ Merkanto zögerte. Allein. Dieses Wort brachte etwas in ihm zum Klingen.
„Was hast du?“ Nepumuk schien den Wandel bemerkt zu haben.
„Er war nicht allein. Er hat jemanden bei sich …“ Merkanto versuchte, sich an ein Gesicht zu erinnern, doch da war nichts. Nur Iljans Blick, als er gestand …
„Ich habe eine Freundin. Jackie. Sie wurde von den Werwölfen aus dem Sonnenland verschleppt.“
„Eine Werwölfin“, berichtete Merkanto pflichtbewusst. „Sie bringt ihn bis zur Grenze.“
„Wie bitte?!“ Nepumuks Stimme wurde lauter. „Er zieht einen räudigen Wolf mir vor? Mir, seinem Vater?“
Bei dem scharfen Tonfall des Vampirs zuckte Merkanto zusammen. Da sprach doch nicht nur Sorge aus Nepumuks Stimme.
Er zuckte zusammen. Iljan war nicht entführt worden – er war weggelaufen. Wieder sah er zu Nepumuk auf. Sein Dienstherr, seit nunmehr vielen Jahren. Und mit einem Mal erinnerte sich Merkanto wieder an dessen Kontrollsucht, an dessen Grausamkeit.
Kein Wunder, dass Iljan geflohen war.
Der Magier riss die Hand vor den Mund. Was hatte er getan? Er hatte Iljans Plan verraten!
Plötzlich war da die Erinnerung daran, wie er den Trank ergriff. Eigenständig.
„Flieh, Iljan. Keine Sorge, dein Vater wird von mir nichts erfahren.“
Er hatte sein Versprechen soeben gebrochen.
„Dann wissen wir es jetzt“, schloss Nepumuk. „Du wirst ihn zurückholen. Dir vertraut er vielleicht noch. Immerhin denkt er, du hättest vergessen, was er getan hat.“
Merkanto nickte wie betäubt, nicht fähig, ein Wort herauszubringen. Er hatte Nepumuk verraten, dem er schon so viele Jahre diente.
War es das wirklich wert gewesen? Für einen Traum, der sich für Iljan ohnehin niemals erfüllen würde?
Nepumuk, der von dem Konflikt seines Strategen nichts mitbekommen hatte, drehte sich auf dem Absatz und stürmte davon.
Etwas kitzelte Merkantos Gedächtnis, als er die angetretenen Drachenwesen musterte.
Nepumuk hatte ihn ursprünglich mit einem Suchtrupp losschicken wollen, doch Merkanto war sich sicher, dass dies Iljan noch weiter abschrecken würde, und so hatte er den Grafen überreden können, ihn nahezu allein zu schicken. Aber einen Begleiter musste er mitnehmen, und Nepumuk hatte auf einem kampferprobten Drachen bestanden.
Merkanto musterte die Wesen vor sich. Es gab einige Feuergeborene, ein paar kleine Drachen und einige Funkenwesen. Ein seltsames Gefühl der Vertrautheit überkam ihn, das er sich nicht erklären konnte. Nun, vielleicht hatte er einige dieser Kreaturen gekannt, sie während ihrer Ausbildung getroffen. Das war jedenfalls die wahrscheinlichste Erklärung.
Sein Blick blieb an einem jungen Exemplar hängen. Ja, den Drachen wollte er mitnehmen. Er musterte die gewundenen, schwarzen Hörner, die roten Schuppen, den kräftigen, kaum pferdegroßen Körperbau.
Was unterschied diesen Drachen von allen anderen? Nichts, vermutete Merkanto achselzuckend. Sie alle würden diesen Zweck erfüllen. Wenn er Iljan einholen wollte, sollte er sich nun entscheiden und dann unverzüglich aufbrechen.
„Du da!“
„I-ich, Berater?“ Der Drache trat unsicher vor.
„Bist du dir sicher?“, fragte Nepumuk gedehnt.
Merkanto wollte sich seine Zweifel nicht anmerken lassen. „Klar.“
Nepumuk nickte und entließ sie mit einem Wedeln der Hand. „Dann eilt euch.“
Merkanto verneigte sich und trat aus dem Zimmer. Der rote Jungdrache folgte ihm. In seinem hellen Blick standen unzählige Fragen.
„Wieso … ich?“
„Du bist so gut wie jeder andere“, brummte Merkanto. „Wie heißt du?“
„Ich war noch niemals außerhalb der Eiswüste!“, protestierte der Drache. „Und ich habe keine Erfahrung darin, Vampire zu bekämpfen.“
Merkanto sah zurück. Sie waren sicherlich noch in Hörweite von Nepumuk. „Wir haben nicht vor, Iljan zu bekämpfen. Wir sollen den jungen Grafen wohlbehalten zurückbringen.“ Er würde allerdings den Teufel tun, Iljan so zu verraten.
Irgendwie müsste er den Drachen noch einweihen. Oder ihn loswerden, wenn dieser sich nicht überzeugen ließ, den jungen Vampir zu vergessen.
„Ich weiß nicht …“, murmelte der Drache. „Der Vampir ist also weggerannt?“
Merkanto sah nochmal zurück. Nepumuk war nirgendwo zu sehen.
„Ja, ist er“, erklärte er mit leiser Stimme. „Und ich habe nicht wirklich vor, ihn zurückzubringen.“
Erstaunt sah der Drache ihn an.
Merkanto ballte die Fäuste und suchte nach der Energie der Blitze. Er würde den Drachen notfalls töten. Bei so einem jungen Tier könnte er das schaffen.
„Du lässt ihn ziehen?“
„Wir müssen vielleicht so tun, als hätten wir ihn gefunden, aber er wäre uns entkommen. Ich werde mir da irgendwas überlegen, damit Graf Taidoni keinen Verdacht schöpft.“ Merkanto sah den Drachen an. „Niemand darf davon erfahren!“
„Ich werde schweigen“, versprach der Drache mit nahezu kindlichem Ernst.
Merkanto atmete auf.
„Um ehrlich zu sein, wollte ich selbst wegrennen“, murmelte das geschuppte Tier.
Merkanto sah nach vorne. „Vielleicht … nun, wieso nicht.“ Sie würden Iljan folgen. Da könnten sie sich ihm auch gleich anschließen. Sie würden Nepumuk gemeinsam entkommen – oder gemeinsam scheitern.
Es gab nichts, das Merkanto zurückhielt.
„Dann … fliehen wir, Berater?“
„Nenn mich doch Merkanto. Und ja, sieht ganz so aus.“
Der junge Drache grinste. „Ich wollte schon immer mal Sonnenlanddrachen sehen!“
„Vielleicht werden wir das.“ Merkanto dachte an das Risiko, das das bedeutete. Dann sah er auf. „Und wie ist nun dein Name, mein Junge?“
„Askook.“