Najas Heimatdorf sah nicht viel anders aus als Jackies Heimat, obwohl es auf der anderen Seite der Grenze lag, tief im Reich der Riesen.
Strohgedeckte Hütten, erdige Wege, sogar Gärten – allerdings wuchsen hier mehr Brennnesseln als Blumen, wenngleich es Anzeichen gab, dass die Bewohner versucht hatten, ihre trostlose Heimat mit Farben zu akzentuieren.
Als Askook tiefer ging, spürte er, wie der Inkubus auf seine Rücken sich versteifte. Er drehte ab und landete ein Stück außerhalb des Dorfes. Dort liefen keine Bewohner zusammen, im Gegenteil. Er hörte bis hierhin, wie Türen zugeschlagen wurden. Vermutlich waren Sonnenlanddrachen hier nicht unbedingt ein gutes Zeichen.
Naja blieb zwischen Askooks Rückenstacheln sitzen. Der Drache drehte den Kopf. »Brauchst du noch etwas Zeit?«
»Ich fürchte, wenn ich noch viel länger nachdenke, gehe ich gar nicht.« Naja sah auf, machte aber keine Anstalten, abzusteigen.
»Ich kann dich auch zwingen«, bot Askook lächelnd an. »Aber es ist dir sicherlich lieber, wenn du es aus eigener Kraft schaffst.«
Naja seufzte tief. »Ich habe hier … viel Leid verursacht.«
»Und du hast das ganze Land befreit.«
»Also gut.« Der Inkubus gab sich einen Ruck und sprang von Askooks Rücken. »Tun wir’s.«
Mit langsamen Schritten folgte Askook seinem Freund zum Dorf. Die Straßen blieben leer. Alle Türen waren verschlossen, die Vorhänge in die Fenster gezogen.
»Hallo?«, rief Naja leise. »Wir tun euch nichts. Ihr braucht euch nicht zu fürchten.«
»Niemand fürchtet dich.« Die scharfe Frauenstimme kam aus einer Seitengasse, dann trat eine hochgewachsene Frau heraus. Sie trug ärmliche, wollene Kleidung, doch ihr Blick war so herrisch wie der einer Königin.
»Mutter«, sagte Naja kläglich.
»Was ist mit dem Drachen?« Die Frau nickte zu Askook.
»Er tut euch nichts.«
»Es sei denn«, grollte Askook, dem der Tonfall der Frau nicht gefiel, »mein Freund wird bedroht.«
»Sie hätte alles Recht dazu«, widersprach Naja scharf, dann wandte er sich seiner Mutter zu. »Ich weiß, ich habe Mist gebaut. Nach Katies Tod war ich verloren. Ich wollte niemals meiner Natur folgen, aber ich sah keinen anderen Ausweg …«
»Und statt in den Krieg zu gehen …«
»Ich bin weggelaufen«, gestand Naja wie ein gescholtenes Kind. »Als ich Iljan traf, sah ich einen Schatten des Jungen, der ich damals war. Ich dachte, vielleicht finde ich den Najaxis von damals wieder.«
Seine Mutter lauschte mit versteinerter Miene. »Wieso … bist du zurückgekommen?«
»Ich habe lange überlegt«, antwortete Naja. »Ich bin sicher, ihr wollt mich nie wiedersehen. Aber ich wollte wissen, wie es euch hier geht. All meine Freunde leben hier, Mutter. Und ich wollte nach dir sehen.«
Eine ganze Weile sahen die beiden einander nur an. Askook wusste nicht viel darüber, was zwischen ihnen vorgefallen war. Najaxis hatte nicht alles erzählt. Nur, dass sie im Streit auseinander gegangen waren, weil Naja seiner Natur als Inkubus gefolgt war.
Schließlich löste seine Mutter jedoch die verschränkten Arme. »Du bist nicht mehr der Najaxis von damals. Ich … habe wohl auch einiges gesagt, was ich mir besser verkniffen hätte.«
»Du hattest recht mit allem.«
»Ach, Naja … Ich habe damals vor allem den Hass auf deinen Vater an dir ausgelassen, statt dir zu helfen. Du hast mich gebraucht. Doch nach allem, was ich gehört habe, hast du es auch ohne meine Hilfe geschafft. Du bist … ich bin stolz auf dich.«
Naja sah sie fast ungläubig an. »Du bist nicht mehr wütend?«
»Ich will nicht lügen – ich war lange Zeit sehr wütend. Aber ich habe gehört, wie du dich entwickelt hast. Ich war immer noch skeptisch, aber sieh dich nur an … wie du gewachsen bist!« Die ältere Menschenfrau trat aus der Gasse und umkreiste Naja. »Wobei, hier werden nicht alle das so sehen. Ich glaube, die Werwolfgeschwister sind immer noch wütend.«
»Ich würde gerne mit ihnen reden«, sagte Naja. »Vielleicht kann ich mich irgendwie entschuldigen. Wenn nicht – dann ist das eben so.«
Seine Mutter sah ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Besorgnis an. »Das wird nicht leicht werden.«
»Nichts an der Reise hierher war leicht.« Naja lachte leise. »Und eine Göttin mussten wir auch noch besiegen.«
Nun, da der Sprung geschafft war, schien der Inkubus endlich selbstbewusster zu werden. Askook hatte zuerst noch Zweifel gehabt. Doch jetzt sah es aus, als würde Najaxis sich behaupten können.
Er hatte in der Tat eine lange Reise hinter sich und war verwandelt daraus hervorgekommen. Askook bezweifelte, dass die anderen Kinder der Sonne genau erkannt hatten, welchen Sprung Naja gemacht hatte. Askook dagegen, der so viel verpasst hatte, erkannte den Inkubus kaum wieder.
Naja sprach noch eine Weile mit seiner Mutter und sie bot ihm schließlich an, dass er in sein altes Zimmer ziehen könnte. Die beiden waren immer noch befangen. Was auch vorgefallen war: Es würde seine Zeit dauern, die Beziehung zu kitten. Doch sie schienen gewillt, es zu versuchen.
»Askook.« Najaxis kam schließlich auf ihn zu. »Ich denke, ich werde einige Wochen hier bleiben. Wir finden sicher einen Platz, wo du schlafen kannst, aber …«
»Ich mache den Leuten Angst.« Askook sah zu den versperrten Türen. »Ich weiß.«
»Tut mir leid, Kumpel. Aber das kriegen wir hin.«
»Das müssen wir nicht.« Askook sah in den Himmel. »Ich denke, du musst das hier alleine machen. Ich werde sehen, wohin ich fliege. Immerhin steht mir jetzt die ganze Welt offen.«
In Wahrheit war er ziemlich sicher, wohin er musste. Es gab noch jemanden, der unter einem Elternteil gelitten hatte und sich dieser Erinnerung nun ganz alleine stellen musste.
»Wir sehen uns, Naja. Viel Glück mit deinen Freunden.«