»Was hast du getan?«
Wie durch einen Nebel drang die Stimme seiner Mutter zu Alex vor. Er blinzelte.
Er stand auf den Wiesen vor der Hütte. Was war geschehen? Er fühlte sich wie aus einem Traum erwacht.
Was hast du getan?
Es war kalt. Die Sonne war untergangen. Kurz blitzte Tommys Gesicht vor Alex auf, schief grinsend. Er war auf ihn zugekommen. Tommy hatte irgendwas sagen wollen. Er hatte seinen Namen gerufen. Ein Entschluss. Ein Friedensangebot.
WAS HAST DU GETAN?!
Alex sah nach unten.
Ein Messer. Blut auf seinen Händen. Tommy ausgestreckt im Gras.
Nein. Das musste eine Täuschung sein! Eine Illusion.
Verzweifelt hob Alex den Kopf. Er sah seine Mutter, die aus der Hütte humpelte und den Stock schwang.
Neben ihr war ein Engel aufgetaucht, der Vertreter der Himmelswacht. Und beide schrien diese Worte.
»Was hast du getan?«
Wie betäubt stolperte Alex zurück. Ihm war kalt, nur das Blut auf seinen Händen war warm. »Tommy …«
Er verstand nicht, was geschehen war. Emotionen wirbelten durch seinen Kopf, seine eigenen und fremde.
Tommy lag auf dem Boden, ohne sich zu rühren. Dunkle Flüssigkeit netzte das Gras. Und in Alex‘ Kopf tobte ein Sturm. Gleichzeitig herrschte dort absolute Leere.
Dann merkte er, dass der Engel gar nicht mit ihm sprach. Stattdessen funkelte der Geflügelte zur Grenze herüber.
Alex drehte sich um und erblickte den schwarzgekleideten Dämon, dessen Grinsen und Augen herüberglühten. Die Hände in den Taschen der Hose schlenderte er einfach auf die Wiesen des Sonnenlands.
Ihre Mutter war bei ihnen angekommen und beugte sich über Tommys Leiche.
»Ich habe dich gerufen, um ihn zu beschützen!«, fuhr sie ihn an. »Ich werde dich zerreißen.«
Aber ihre Drohung war schwach. Alex spürte, dass sie es nicht tun würde, nicht konnte. Alle Kraft und alle Wut hatten sie verlassen, während sie ihren Sohn langsam in ihre Arme zog. Sie weinte nicht. Sie strahlte überhaupt keine Gefühle mehr aus.
Flehend sah Alex zu dem Engel, der zu ihm schwebte. »Könnt ihr nicht irgendwas tun?«
Traurig schüttelte der Engel den Kopf. »Er braucht eine Seele, um zum Engel zu werden. Es ist zu …«
»Nehmt meine!«
Der Engel sah Alex verwirrt an. »Bist du dir sicher?«
»Nehmt meine Seele, bitte.« Tränen liefen über seine Wangen.
Blinzelnd setzte Tommy sich auf. Was war geschehen? Er fühlte, dass seine Mutter ihn fest umklammerte. Erdrückend fest. War er ohnmächtig gewesen? Er konnte sich nicht mehr erinnern.
Dann bemerkte er den Engel und eine dunkle Gestalt, die sich ihnen näherte.
Tommy sah verwirrt zwischen dem Engel und dem Dämon hin und her. Wieso ließ der Geflügelte das Schattenwesen einfach passieren? Natürlich, die Himmelswacht kümmerte sich nur um den Luftraum – aber einen Dämon würden sie doch nicht so einfach ignorieren?
Tatsächlich richtete der Engel sein Schwert auf den Dämon. »Der Mensch gehörte uns.«
»Und ihr könnt ihn haben. Aber ich will den besprochenen Preis.«
Der Engel seufzte, und dann ließ er die Waffe sinken. »In Ordnung.«
»Lebt er noch?« Der Dämon näherte sich einer Gestalt im Gras.
»Ihr habt euch abgesprochen?«, heulte Tommys Mutter auf. »Was soll das? Habt ihr meine Jungs einfach … einfach benutzt?«
»Wir brauchen einen Erzengel«, sagte der Engel mit fester Stimme. »Aber es gibt keine mehr und sie werden nicht geboren, sondern geschmiedet. Dafür braucht es eine große Seele – oder zwei Seelen, durch ein Opfer in einem Körper vereint.«
»Und wir brauchen einen Körper, dem ein Engel die Seele entrissen hat«, ließ sich der Dämon vernehmen. »Es war nur logisch, zusammenzuarbeiten. Du wirst sehen, deinen Jungs steht Großes bevor. Sie werden Fürsten des Lichts und der Dunkelheit.« Mit blitzenden Zähnen sah der Dämon den Engel an. »Stellt euch nur vor, welchen Schaden ein Nachtmahr mit den Fähigkeiten eines Schutzengels anrichten kann! Er kann ganz andere Albträume in den Seelen der Menschen finden.«
»Unser Erzengel wird ihn vernichten«, widersprach der Engel.
Verwirrt folgte Tommy dem Gespräch. Er spürte bereits, wie ihm die Erinnerungen daran entglitten. Irgendeine merkwürdige Magie lag in der Luft.
Er sah zu dem leblosen Körper, den der Dämon mit Leichtigkeit aufnahm.
Diesen Jungen kannte er doch. Alex … sein Bruder Alex!
»Lass ihn los!«, brüllte er den Dämon an.
»Das ist der Preis, den wir zahlen müssen«, erklärte der Engel ihm sacht. »Dafür erhalten wir die Macht, die Dunkelheit zurückzudrängen.«
»Ich lasse das nicht zu! Er ist mein Bruder.«
»Denkst du, du kannst mich aufhalten?« Der Dämon sah ihn spöttisch an. »Noch hast du deine Kräfte nicht, Erzengel.«
»Und ich will sie auch nicht!« Tommy kämpfte sich schwankend hoch. Licht glühte um seine Fäuste, die Engelsmagie, die instinktiv aus ihm herausbrach. »Niemals werde ich euer Erzengel! Ich werde meinen Bruder nicht bekriegen – das schwöre ich!«
»Nein!«, schrie der Engel auf.
Tommy fühlte, wie der Schwur durch den Zauber gebunden wurde.
»Dieser Narr!«, zischte der Dämon. »Die ganze Warterei umsonst. Könnt ihr eure Rekruten nicht besser unter Kontrolle halten?«
»Verzieh dich einfach«, grollte der Engel, packte Tommy am Arm und berührte seine Stirn. Sofort sackte Tommy in seinem Griff zusammen, ebenso leblos wie sein Bruder.
»Was habt ihr mit ihnen vor?«, rief die Mutter der Zwillinge.
Engel und Dämon tauschten einen Blick. Stumm einigten sie sich, dass sie keine Zeugen gebrauchen konnte. Zwei konzentrierte Strahlen trafen sie, einer golden, einer schwarz, und es blieb keine Spur der Verschwörung.
Der Engel ging mit dem einen Kind ins Sonnenland, der Dämon in die andere Richtung. Obwohl ihr Plan vom mächtigen Erzengel und Dämon gescheitert war, war doch nicht alle Arbeit umsonst. Sie würden zwei starke Soldaten erhalten, obwohl sie nicht so übermächtig waren, wie sie es gehofft hatten. Jedenfalls würden sie einander niemand in der offenen Schlacht begegnen können.
Doch trotzdem würde nun der lange Prozess beginnen, der die Kindheit der Jungen auslöschen würde. Der erste Schritt würden neue Namen sein.
Terziel und Abarax. Sie würden ihr gesamtes vorheriges Leben verlieren. Auf gewisse Weise waren sie beide an diesem Tag gestorben.
Und doch hatten sie einen kleinen Sieg erringen können.