Zitternd und geschwächt schleppte sie sich voran. Der Wind fuhr unter das dünne, schwarze Kleid, das inzwischen in Fetzen hing. Ihr Leib, deformiert und gebeugt, wollte ihr kaum gehorchen. Tränen hatten Gudruns Wangen gerötet.
Es waren Tränen der Erleichterung, weil sie endlich das Schloss vor sich sah.
Fast ein Jahr der Irrfahrt lag hinter ihr, seit man sie aus dem Palast der Sonne geworfen hatte, von einer Magierin verwandelt in eine buckelige, hässliche Hexe.
Die Macht der Königin hatte ihr ihre Kräfte genommen und sie ersetzt durch die Zauber einer Hexe, die Gudrun nur langsam zu beherrschen gelernt hatte. Sie war schon immer gelehrig gewesen und hatte viel über das Schattenland gelesen, und das hatte ihr Leben gerettet. Sie hatte rechtzeitig gelernt, die dunkle Magie zu wirken. So hatte sie dem Sonnenland entfliehen und sich ins Reich der Nacht durchschlagen können. Sie hatte Tränke gebraut und war dem Tod mehr als einmal knapp entkommen. Teilweise war sie gekrochen, entkräftet, nur von dem Gedanken beherrscht, Nepumuk erreichen zu müssen.
Nepumuk. Das Ziel ihrer Reise. Sein Gesicht war das einzige Licht, das ihr geblieben war, und es leuchtete vor ihr, wann immer sie die Augen schloss.
Dann sah Nepumuk sie an und lächelte, und er wiederholte die Worte, die er ihr vor Ewigkeiten an der Grenze gesagt hatte: »Falls du aber je die Seiten wechseln solltest, wärst du im Schloss meines Vaters jederzeit willkommen.«
Diese Erinnerung war die einzige Person, die ihr noch die Hand reichte. Alles andere hatte Gudrun verloren.
Und so hatte sie sich vorangeschleppt und schließlich das Schneegebiet im Herzen des Schattenlands erreicht, in dem sich auch Nepumuks Schloss befand.
Nun war sie nach all den Mühen beinahe da. Und damit war ihre Plackerei zu Ende. Nepumuk würde von ihr alles erfahren. Ihre Treue zu ihm würde ihn beeindrucken.
Gudrun näherte sich dem hohen Tor. Sie streckte eine Hand aus, die zu einer Klaue gekrümmt war, und klopfte.
Es dauerte, bis das Tor geöffnet wurde. Der Diener musterte sie erstaunt, als diese gebeugte Kreatur darum bat, vor den Herrn des Schlosses gebracht zu werden.
Nepumuk saß auf einem schwarzen Thron in einer großen, leeren Halle. Er musterte sie mit rotem Blick.
»Wer bist du?«
»Erkennst du mich denn nicht?«, fragte sie leise. »Ich bin es. Elysa.«
»Die Magierin. Was tust du hier?«
»Ich bin nun eine Hexe. Und nicht mehr Elysa, sondern Gudrun. Ich wurde verbannt.« Sie senkte den Blick. »Du hast mir einmal angeboten, dass ich hier willkommen wäre. Ich kann sonst nirgendwo hin.«
»Was soll ich mit einer Bittstellerin?«, fragte Nepumuk jedoch. Seine harschen Worte schockten sie, doch Gudrun fing sich. Es waren Diener anwesend. Sicher konnte Nepumuk hier nicht offen sprechen.
»Du bist mir nicht mehr von Nutzen«, sprach er weiter und gab dir damit verborgen den Hinweis, was sie zu sagen hatte. Sie musste seinen Dienern beweisen, dass sie hier am rechten Platz war.
»Ich bin keine Magierin mehr und keine Spionin für dich, das stimmt.« Lächelnd erinnerte sie ihn an die Dienste, die sie ihm erwiesen hatte. »Ich habe dir Rache ermöglicht und deinen Zauberer Merkanto befreit. Aber ich verstehe deine Bedenken. Ich bin jedoch immer noch nützlich. Ich bin eine große Hexe! Ich habe in dem einen Jahr rasch gelernt. Gib mir ein Labor, etwas Ruhe und die nötigen Zutaten, und ich werde wahre Wunder vollbringen können! Mit Sicherheit werde ich die beste Hexe im Schattenland.«
Nepumuk hob belustigt eine Augenbraue. »Das ist ein ordentlicher Titel.«
»Der größte Graf der Nacht verdient nur die beste Hexe.« Gudrun lächelte unterwürfig. Es war ein ehrliches Lächeln. Sie war bei ihm. Sie hatte Nepumuk erreicht. Nun würde alles gut werden.
Oh friend of mine,
I'll wait for you to see.
Don't you try to hide.
You know you're better off with me.
Cause nobody wants to be alone,
even if they are only ghosts.*
»In Ordnung«, entschied Nepumuk schließlich. »Ich erlaube es. Bleib, Gudrun Blackwood.«
Ihr Herz schlug ein wenig höher. Er erinnerte sich an ihren vollen Namen! Nach all den Jahren! Brauchte es einen größeren Beweis für seine Liebe?
Nepumuk erhob sich. »Folge mir.«
Er führte sie durch die langen, leeren und schmalen Gänge des Schlosses, das nun ihre Heimat werden würde. Es war kleiner als das Sonnenschloss, doch sie liebte es bereits.
Er zeigte ihr ein Zimmer, das voller Gerätschaften stand. »Ein Labor! Wusstest du etwa, dass ich komme?«
Sie grinste ihn an, doch Nepumuk verzog das Gesicht. »Nein. Das ist schon lange hier. Mein Vater hatte eine Hofhexe, aber ich habe nie eine gebraucht. Vielleicht wirst du dich ja trotzdem als nützlich erweisen. Schaden kann es nun mal nicht.«
Nepumuk wandte sich zum Gehen. Gudrun blickte ihm nach und bekämpfte die aufsteigenden Zweifel.
Es gab sicherlich einen guten Grund für sein Verhalten. Immerhin hatte er in seinem Leben auch viel Verlust durchgemacht. Früher oder später würde sie jedoch zu ihm durchdringen. Und dann würde alles gut werden.
Immerhin hatte sie alles für ihn aufgegeben. Ihre Heimat im Sonnenland, ihre gute Stellung am Hof der Königin, ihren Stolz und ihren guten Namen, und auch ihre Schönheit, ihre Kräfte, kurzum: Alles. Ihr war nur die Liebe zu Nepumuk geblieben.
Das war es wert. Das musste es wert sein. Denn ansonsten …
Nein. Darüber konnte sie nicht nachdenken. Es war die richtige Entscheidung gewesen.
I'm the devil on your shoulder.
I'm only cold till you come closer.
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*»Nobody wants to be alone«, Christian Reindl feat. Atrel