Nepumuks finsterer Blick jagte Elysa einen Schauer über den Rücken, als sie die Pforte von Umira betrat. Seine roten Augen glühten. Zum ersten Mal erhielt sie eine Ahnung davon, wie monströs ein Vampir ohne die edle Maske sein konnte.
Dennoch fürchtete sie sich nicht. Sie vertraute dem Weißhaarigen.
»Mein aufrichtiges Beileid für deinen Verlust«, sagte sie sanft.
»Diese verdammte Elfe«, grollte Nepumuk und tigerte an der Grenze auf und ab. »Sie hatte einfach nur Glück!«
Elysa sah ihm stumm bei seinem Weg zu. Nepumuk war so abgelenkt, dass er sie kaum ansah. Wut brodelte in ihm. Eine zornige Falte zog sich über seine hohe Stirn und sein langes Haar wirbelte um seine schlanke Gestalt.
Er sah trotz des raubtierhaften Glühens in seinem Blick wunderschön aus. Elysa konnte nicht anders, als diesen kurzen Moment zu zweit zu genießen, so schmerzlich der Anlass auch war.
Schließlich musste sie das Schweigen jedoch brechen. »Du weißt also, wer es war?«
»Amirana Tirzeryna.« Nepumuk spuckte den Namen aus wie einen Fluch.
»Eine Elfe?«
»Sie wurde als Geisel gefangen genommen. Dann tötete sie ihre Wachen und …«
»Und deinen Vater«, sprach Elysa weiter, wo Nepumuks Stimme versagte.
Er blieb stehen und sah sie an. »Ich muss sie töten. Drüben, im Wald, wartet eine kleine Gruppe Getreuer auf mich. Sie denken, ich kundschafte die Grenze aus, um eine Lücke zu finden.«
Elysa erstarrte. »Du …?«
»Ich weiß, wo ich sie finden kann«, sagte Nepumuk. »Sie hat meinen Vater vergiftet und das brachte ihm den Tod. Das kann ich nicht ungesühnt lassen.«
»Ich kann dich nicht passieren lassen«, hauchte Elysa, die erkannte, was er verlange. »Es war ein fairer Kampf. Eine Entführung und die Vergeltung.«
»Was ist daran bitte fair?«, brüllte Nepumuk. »Es war verdammtes Weihwasser! Ein Gift!« Er atmete heftig, ein Beweis dafür, wie sehr ihn das alles bedrückte. Es war Nacht und er ein Vampir – eigentlich müsste er gar nicht atmen! »Er hat viele Jahre unter dem Gift gelitten. Ich will meine Rache! Ich verlange Gerechtigkeit!«
»Die Königinnen haben sich geeinigt …«, murmelte Elysa.
»Die Königinnen liegen falsch.«
Sie seufzte. Denn im Grunde gab sie ihm recht. War sie voreingenommen, weil sie Nepumuk mochte?
Nein, sagte sie sich. Es ist wirklich ungerecht. Immer wieder entführen die Vampire Sonnenländer als Frauen. Man darf sich befreien, aber die Entführer zu einem Leben in Leid verdammen?
»Du musst nur ein Auge zudrücken«, flehte Nepumuk jetzt. Er trat zu ihr und ergriff Elysas Hände. »Wir brauchen nur einige Minuten, um über die Grenze zu kommen. Ungesehen. Wir reisen direkt zu den Wäldern, töten die Elfe und kehren zurück, ohne dass jemand uns sieht. Niemand wird die Wahrheit je erfahren. Das bleibt nur unter uns.«
Der Blick, den er ihr schenkte, machte Elysas Knie weich. In ihrem Kopf drehte sich alles, weil sie seine kühle Haut überdeutlich führte. Sie waren sich so nah wie noch nie. Wenn sie sich reckte, könnte sie ihn küssen.
Wusste er, dass er sie um den Verstand brachte? Welchen Bann er auf sie legte? Spürte er die Wirkung, die seine Nähe auf sie hatte?
Was war schon dabei, ihm zu helfen? Es war nicht einmal ein direkter Verrat. Ihre Königin stand für Gerechtigkeit ein. Nun hatte sie sich in einer Kleinigkeit geirrt und Elysa würde diesen Fehler stillschweigend geraderücken.
»Aber nur die Elfe«, flüsterte sie.
Nepumuk lächelte. Er wusste, dass er gewonnen hatte. Die Freude, die sie in seinem Blick sah, ließ Elysas Herz hingerissen schmelzen.
»Nur die Elfe, ich verspreche es«, sagte er. »Und niemand wird je davon erfahren, welche Rolle du spieltest.«
Sie nickte. »Gebt mir zwei Stunden.«
Die Weißen Wächter hatten keinen Verdacht geschöpft. Elysa hatte ihnen einfach gesagt, dass sie von verdächtiger Aktivität im Westen, bei Quellheim, erfahren hätte. Natürlich glaubte man der obersten Magierin, und so zog die Truppe rasch ab, um nach dem Rechten zu sehen.
Elysa stand auf einem Hügel der Wiesen und kontrollierte, dass sie allein war, bevor sie eine weiße Lichtkugel aufsteigen ließ. Ihr Licht war schwach und unauffällig, doch die Augen eines Vampirs würden sie sehen können.
Und tatsächlich, nur wenig später sah sie mehrere geduckte Gestalten über das Gras huschen.
Nepumuk führte einen Trupp aus fünf Kriegern an. Sie waren allesamt schnell. Vampire.
Bevor irgendjemand etwas bemerken konnte, waren sie bereits vor der Grenze zum Wald der Seen.
Elysa atmete tief und zittrig durch. Sie konnte nur hoffen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es fühlte sich richtig an. Überwiegend.
Ein leiser Zweifel blieb. Immerhin hatte sie gerade sechs gefährliche Feinde ins Sonnenland gelassen, die ihr bereits angekündigt hatten, dass sie jemanden ermorden wollten. Sie kannte Amirana flüchtig. Soweit sie wusste, herrschte sie an der Seite des Elfenkönigs Vailandamir und hatte eine junge Tochter. Dieses Familienglück würde nun zerstört werden.
Und das war ihre Schuld.
Die Gewissheit drang langsam zu ihr vor. Ein Elf würde ihretwegen seine Seelenverwandte verlieren. Eine Tochter ihretwegen ihre Mutter.
Aber ein Sohn hatte seinen Vater wegen Amirana verloren. Also war es doch gerecht!
So oft sie sich das auch sagte, es schien nicht wahrer zu werden. Vor allem, weil sie sich im Moment der Entscheidung nicht als Herrin ihrer Sinne gefühlt hatte. Es war keine rationale Entscheidung gewesen, sondern eine emotionale, um Nepumuk zu helfen. Die Folgen bedachte sie erst jetzt.
Doch nun konnte sie Amirana nicht warnen, ohne ihren Verrat zuzugeben.
Sie überlegte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hieß die junge Tochter der Elfe Caryellê.
Und Elysa erkannte, dass die Schuld sie auf ewig verfolgen würde.