Die rote Wölfin durchstreifte die Grenze zwischen Wäldern und Eiswüste, den äußersten Bereich vom Revier ihres Rudels.
Der Schnee fiel dicht und schwer. Das Rascheln der fallenden Flocken war das einzige Geräusch, das sie begleitete.
Jackie … das war ihr Name. Und ein halbes Lebensalter war für sie vergangen. Eine Zeit vor der Wölfin hatte es gegeben – doch sie war nahezu vergessen, nur manchmal riss die alte Wunde noch auf, wenn sie den Namen hörte. Louise.
Es war eine Wunde, die niemals heilen würde, niemals verschwinden. Es war die Strafe dafür, dass sie damals nicht stark genug gewesen war.
Jackie spitzte die Ohren, als sie einen Laut hörte. Der Wind trug ein Wimmern an ihre Wolfsohren.
Jemand war in Not. Draußen, in der Eiswüste, die das Revier der Vampire war.
Trotzdem konnte sie nicht weghören. Denn tief, tief in ihrem Herzen war sie immer noch Jacky, die verzweifelt versuchte, ihre Schwester zu beschützen.
Schritt für Schritt lief sie auf leisen Pfoten hinein ins Gebiet ihrer Feinde. Vampire waren aus Sicht der Werwölfe fast noch schlimmer als Sonnenländer. Jackie lief mit dem Bauch dicht am Boden, so leise, dass der fallende Schnee ihre Schritte übertönte.
Nun roch sie auch Blut. Das Wimmern wurde lauter und brach dann plötzlich ab.
Eisige Kälte fuhr durch Jackies Fell. Wieso war das Wimmern verstummt? Das war genau wie damals, in der Nacht, als sie Louise verloren hatte.
Sie stand stocksteif. Wenn Vampire in der Nähe wären, wusste sie nicht, ob sie es schaffen könnte, zum Bau zurück zu fliehen. Es war Halbmond, und ihre Chancen standen wenigstens ausgeglichen.
Dann erklang das Wimmern wieder, kurz, ehe sein Urheber ängstlich verstummte. Ein jämmerliches, furchtsames Geräusch.
Eine zaghafte Stimme erklang, die sich alle Mühe gab, stark und tapfer zu klingen: „Wer ist da?“
Jackie schloss einen Moment die Augen. Es war nicht Louises Stimme, trotzdem war diese Hoffnung aufgeflammt, einen kurzen Moment lang – dass sie wieder im Wald war und dass ihre Schwester ihr diesmal helfen könnte.
Sie wagte es nicht, sich zurückzuverwandeln. Der Schnee war zu kalt für Menschenhaut. Wortlos trottete sie auf die Stimme zu. Der Geruch nach Blut hatte seinen Ursprung unter dem Schnee. Wer auch immer hier lag, war zugedeckt worden. Er lag schon lange hier. Sie schnupperte, bis sie die Quelle ausmachen konnte, dann stemmte sie ihre Pfoten in den Schnee und grub.
Als sie sah, was sie da unter dem Schnee befreite, sprang sie zurück. Es war ein Mann. Nein, ein Junge. Ihr Herzschlag hämmerte wie wild, donnerte in ihren Ohren: Sein Geruch, unter dem Schnee befreit, stieg ihr in die Nase.
Vampir.
Unwillkürlich entwich ihr ein Knurren.
Der Vampir bleckte die Zähne und stieß ein Fauchen aus, das Jackie auf einen Schlag alle Furcht nahm. Solche Angst schwang in dieser hilflosen Drohgebärde mit, dass ihr Fell sich glättete. Fragend legte sie den Kopf schief, während sie sich in den Schnee setzte.
Das war kein Todfeind, der sich auf sie stürzen würde. Vielmehr sah auch er traurig aus, als wäre er gefangen. Die Furcht wich aus seinem Blick und machte Mitleid Platz, als ahnte er, was ihre Geschichte war. Er sah nicht aus wie die mächtigen Nachtjäger, die die anderen Werwölfe ihr beschrieben hatten.
Sie spürte, wie das Fell wich, und ließ die Verwandlung zu. Zitternd kauerte sie sich in den Schnee und kreuzte die Arme vor der bloßen Brust. Sie wollte dem Verletzten nicht noch mehr Angst machen. Einzig ihr Haar bot ihr etwas Schutz vor der Kälte.
Zaghaft lächelte sie den Jungen an. „Hey. Ähm. Muss ich dich jetzt fressen oder so?“
„Mir wäre es lieb, wenn du darauf verzichtest“, hauchte der Vampir mit großen Augen.
„Mir auch.“ Jackie unterdrückte ein Zähneklappern. „Roher Vampir ist nicht gerade meine Lieblingsspeise.“
Sie würde sich auf jeden Fall waschen müssen, bevor sie zum Rudel zurückkehrte. Sein Blut klebte an ihren Händen, wo sie es beim Buddeln an die Pfoten bekommen hatte. Würde man den Vampir an ihr riechen – wer wusste, was dann geschah?
„Ich bin allerdings schon halb gebraten“, witzelte der Junge.
Jackie spüre, wie sie unwillkürlich grinste, obwohl die Kälte ihre Lippen schmerzhaft spannen ließ. Sie fühlte sich wohl bei diesem Jungen. Eigentlich ein Hochverrat – ihr Rudel sollte ihre Familie sein, der sie absolut ergeben war. Und ja, sie war treu. Aber nicht mehr, als es die Pflicht verlangte. Niemand von ihnen war wirklich mit ihr befreundet, kaum jemanden kannte sie.
Der Vampir dagegen war anders. Er schien sie zu verstehen. Während sie redeten, fühlte Jackie sich in eine halbvergessene Zeit zurückversetzt.
Früher. Zuhause.
„Also … ich fürchte, aus unserem Kampf auf Leben und Tod wird nicht mehr viel. Ich heiße Jackie.“
„Iljan.“
Da war diese Verbindung, trotz aller Unterschiede. Jenseits der Instinkte, die sie eigentlich zu Todfeinden machten. Er schien zu verstehen, alles. Wie unglücklich sie im Schattenland war, wie ungern sie ein Werwolf war. Sie hatte das Gefühl, dass Iljan sie verstand.
Schließlich stand sie auf und streifte seinen Umhang ab. „Ich muss zurück. Bevor sich jemand fragt, wo ich bleibe.“
Sie wich seinem Blick aus. Er wurde bereits kräftiger, während man hinsah. Vampire hatten erschreckende Heilkräfte. Die finsterste Stunde war vorüber, nun brauchte er sie nicht mehr.
„Wenn mich mein Rudel bei einem Vampir findet, werden sie mich in der Luft zerreißen.“ Sie lachte nervös, um ihre Trauer zu überspielen, dass der kurze Abend des Friedens vorüber war.
„Der Halbmond ist eine schöne Zeit, oder?“, fragte Iljan.
Jackie runzelte die Stirn. „Nun ja …“
„Ist das hier deine Reviergrenze?“
Sie zögerte nur kurz. Einem Feind die Grenzen des Revieres verraten? Das wäre nur ein weiterer Verstoß. „Ganz genau. Wir beherrschen die Ebene bis zu den Bergen.“
Iljan erhob sich leicht schwankend. „Also gut. Halbmond. Selber Ort.“
Jackie sah auf. Iljan grinste schief, während sie versuchte, seine Aussage zu verarbeiten. „Du … kommst wieder?“
Iljan nickte und sah schüchtern zur Seite. „Wenn … wenn du möchtest.“
Sie stieß die Luft aus. Er war wirklich wie sie. Ebenso einsam. „Auf jeden Fall.“
Sein Lächeln spiegelte sie Erleichterung, sie auch sie empfunden hatte, als er versprochen hatte, zurückzukehren. Es war wie ein Lichtblick, ein Sonnenstrahl in der finsteren Polarnacht.
„Halbmond also.“ Sie rief den Wolf in sich, spürte das Fell sprießen.
„Halbmond.“ Iljan zog seinen Umhang über. „Bis dann, Jackie.“
Zur Antwort senkte sie leicht den Kopf, während sie dankbar registrierte, dass das Wolfsfell sie nun wärmte. Ihr kleines Feuer im Schnee war bereits wieder heruntergebrannt, bald würden neue Flocken die Asche bedecken.
Keine Spur würde bleiben außer dem Lächeln auf ihren Lippen, weil sie im kältesten Sturm einen Freund gefunden hatten.