Der penetrante Geruch nach Werwolf riss Iljan aus einem Dämmerschlaf, in den sein Geist sich vor Erschöpfung zurückgezogen hatte. Ohne Blut besaß Iljan auch keine Selbstheilungskräfte mehr, oder wenn doch, dann waren sie so geschwächt, dass sie denen eines Menschen entsprechen würden.
Er schlug dennoch die Augen auf. Als er sich aufrichten wollte, zuckten stechende Schmerzen durch seinen Arm und er sank zurück in den Schnee. Schon wieder drangen Schluchzer über seine Lippen. Er fühlte sich überhaupt nicht traurig. Oder ängstlich. Er fühlte nichts mehr. Die Schluchzer waren wenig mehr als eine körperliche Reaktion.
Der Geruch wurde stärker. Nun hörte Iljan auch das Knirschen von Schnee unter Wolfspfoten. Also hatten sie ihn eingeholt.
Er nahm allen Mut zusammen. „Wer ist da?“
Ein Schatten fiel auf den Schnee, unter dem Iljan lag. Er konnte sogar den Wolfskopf und die Ohren erkennen. Der Wolf lauschte seinem Schluchzen und schnüffelte dann am Schnee. Iljan sah die dunklere Nase im rotem Fell.
Mit den Vorderpranken begann der Wolf zu buddeln. Ein wenig Schnee fiel in Iljans Augen, dann hatte der Wolf ihn freigelegt. Erschrocken sprang sie zurück – es war eine Wölfin – und knurrte Iljan an.
Er zog die Zähne leicht zurück und fauchte mehr aus Instinkt denn aus reinem Kampfgeist. Die Geste musste so kläglich klingen, wie er sich fühlte, denn das Fell des Wolfes legte sich fast sofort an und die Wölfin setzte sich. Mit schiefgelegtem Kopf musterte sie Iljan und er sah zurück.
Das war keine Wölfin aus dem Rudel, das ihn jagte. Vielmehr sah auch sie gehetzt aus, als wäre sie auf der Flucht. Erkannte sie in Iljan einen Seelenverwandten? Das war unwahrscheinlich, immerhin hatte Nepumuk ihm immer eingeschärft, wie animalisch die Werwölfe waren. Doch die grünen Augen der Wölfin schimmerten intelligent.
Sie veränderte sich. Ihre Gestalt schrumpfte, das Fell zog sich in die Poren zurück und ihre Form verbog sich. Schließlich hockte ein nacktes, rothaariges Mädchen am Rand von Iljans Schneemulde. Bibbernd kreuzte sie die Arme vor der Brust, um ihre Blöße zu bedecken. Sie hatte kecke Sommersprossen und Iljan ertappte sich bei dem Gedanken, dass jemand mit solchen Flecken ins Land des Lichts gehörte, nicht in diesen Schnee.
Die Wölfin lächelte ihn an. „Hey. Ähm. Muss ich dich jetzt fressen oder so?“
Iljan war von ihrer Stimme überrascht. Sie klang nervös und ängstlich, dabei hatte sie hier definitiv die Oberhand. Unter anderen Umständen war sie vermutlich witzig und freundlich.
„Mir wäre es lieb, wenn du darauf verzichtest“, stöhnte er gequält ob der Schmerzen.
„Mir auch.“ Die Wölfin klapperte mit den Zähnen. „Roher Vampir ist nicht gerade meine Lieblingsspeise.“
„Ich bin allerdings schon halb gebraten.“ Iljan merkte, dass er sich trotz aller Gefahr entspannte. Das war verrückt! Oder waren es die Schmerzen, die ihn zu müde für Angst machten?
„Auch dann nicht. Ich mag generell kein Fleisch.“
„Das ist aber sehr ungünstig für deine … Berufsklasse.“
Die Wölfin lachte auf. „Ich wurde … ähh … zwangsumgeschult.“
Aha. Sie war eine Verwandelte. Vermutlich verschleppt, womöglich sogar wirklich aus dem Sonnenland.
„Hey … deine Lippen sind ja schon blau“, murmelte er. „In meiner Tasche ist ein Feuerzeug. Du solltest dir ein Feuer machen.“
„Ich … danke.“ Verblüfft starrte sie ihn an. „Was ist mir dir passiert? Du siehst übel aus.“
Warum sollte er sie belügen? „Ich bin abgehauen. Die Sonne hat mich überrascht. Und als ich vor ein paar Werwölfen fliehen musste, hab ich mir den Arm gebrochen.“
„Aber ihr könnt so was doch innerhalb von Minuten heilen.“
Er wich ihrem Blick aus. „Nur mit der Macht aus dem Blut“, sagte er widerstrebend. Er hasste es, darüber auch nur zu sprechen. „Ohne Blut sind wir nichts weiter als nutzlosere Menschen.“
Die Werwölfin blinzelte. „Das heißt … du bist ausgehungert?“ Sie wich ein Stück zurück.
„Keine Angst. Ich beiße nicht.“ Iljan lachte leise. Er griff in seine Tasche und warf ihr das Feuerzeug zu. „Hier. Als Dank, dass du mich nicht frisst, sondern friedlich für mich sterben lässt.“
Sie fing es nicht auf, denn dazu hätte sie ihre Hände lösen müssen. Vorsichtig klaubte sie das Feuerzeug aus dem Schnee.
„Bleib hier liegen“, sagte sie, dann besann sie sich offenbar, wie dumm der Befehl gewesen war. „Bin gleich wieder da.“ Sie eilte davon.
Iljan fielen die Augen zu. Er dämmerte weg, bis er plötzlich lautes Klappern neben sich hörte.
Er öffnete die Augen vorsichtig wieder.
„Ah. Du lebst noch. Das sollte mich nicht freuen, weil mich das in einen ziemlichen Konflikt bringt, aber ich freue mich trotzdem.“
Die Werwölfin. Sie hatte Holz geholt, nun räumte sie den Schnee neben Iljan weg, ohne ihn anzusehen. Sie zitterte vor Kälte. Immer wieder wechselte sie in den Wolfspelz, um sich aufzuwärmen. Schließlich brachte sie aber ein Feuer in Gang und kauerte sich dahinter. Die Flammen boten ihr wirksamen Schutz vor Iljans Blick.
„Also … ich fürchte, aus unserem Kampf auf Leben und Tod wird nicht mehr viel. Ich heiße Jackie.“
„Iljan.“ Er lächelte und setzte sich vorsichtig auf, wobei er den verletzten Arm vor dem Körper hielt. „Nicht dass ich mir das wünschen würde – aber warum bekämpfst du mich nicht?“
„Ich bin gerade aus dem Rudel abgehauen“, sagte Jackie. Iljan hatte also recht gehabt. Sie war wie er! „Und ich glaube, ich brauche Freunde.“
„Ich kann zwar immer noch zurück nach Hause“, sagte Iljan, „aber ich könnte auch Freunde gebrauchen.“
Jackie lächelte und wurde leicht rot. „Also … wie viel Blut brauchst du so theoretisch, um dich zu heilen?“
„Wieso kehrst du dann eigentlich immer wieder zu ihm zurück?“
Jahre später, an fast derselben Stelle, saßen ein rothaariges Werwolf-Mädchen und ein Vampir am prasselnden Feuer. Jackies Frage ließ Iljan aufsehen.
„Ich könnte dich das gleiche fragen: Warum bleibst du bei den Rudeln? Warum läufst du nicht weg?“ Iljan beantwortete die Fragen gleich selbst. „Weil wir alleine oder auch zu zweit keine Chance hätten. Weil man uns jagen würde. Weil die Schattenlande gefährlich sind und wir nicht wissen, wohin wir sollen.“
Jackie seufzte traurig. „Ich weiß. Es war eine dumme Frage.“
„Nicht ganz.“ Iljan sah zu den Sternen und ließ sich in den Schnee sinken. Anders als die in mehrere Decken gehüllte Werwölfin spürte er die Kälte nicht. „Im Schattenreich finden wir keinen Wohnort, aber vielleicht …“
„Das Sonnenland.“ Jackie seufzte wehmütig.
Iljan stützte sich auf die Ellbogen auf und sah zu Jackie herüber. „Wenn wir ein paar Leute mehr wären, könnten wir uns durch das Schattenland schlagen und vielleicht …“
Jackie erwiderte seinen fiebrigen Blick und unterbrach ihn. „Vielleicht was? Die Sonnenländer würden uns abschlachten.“
„Wir müssten ihnen nur beweisen, dass wir friedliche Absichten haben“, grübelte Iljan.
„Schön wäre es …“, gab Jackie leise zu.
„Dann wärst du dabei? Falls wir das jemals versuchen?“ Iljan beugte sich ein wenig vor.
Jackie lachte. „Falls … aber weißt du was, ja. Ich bin dabei. Immerhin gibt es nichts, das ich zu verlieren hätte!“