„Merkanto … hast du kurz Zeit?“
Der alte Zauberer sah von den Papieren auf, die er in dem ihm zugewiesenen Arbeitszimmer in Nepumuks Schloss gerade bearbeitet hatte. „Iljan. Warum so ernst?“
Der junge Vampir stand steif in der Tür und nestelte nervös an seiner Kleidung herum. Über den Schultern trug er einen Pelzmantel aus Mahrpelz – dem Fell der schwarzen, buckeligen Kreaturen, die sich ähnlich wie Nachtmare von Alpträumen ernährten.
„Möchtest du etwa wandern gehen?“, fragte Merkanto und nickte zu dem untypischen Kleidungsstück.
„Eher … eine Reise … machen“, antwortete Iljan zögerlich.
Merkanto runzelte die Stirn. Nepumuk hat mir nichts davon gesagt.“
„Tja …“, druckste Iljan herum.
„Er weiß es nicht“, stellte Merkanto fest und drehte sich auf dem Stuhl so, dass er Iljan direkt ansehen konnte. Den Ellbogen hatte er auf die Rückenlehne gestützt. Streng musterte er den blonden Vampir. „Ich muss ihm davon erzählen, das weißt du, Iljan.“
„Bitte …“, flehte der Vampir. „Ich kann einfach nicht hier bleiben und den guten Sohn spielen. Du weißt, wie sehr ich es hier hasse. Ich will kein Monster werden, wie … wie Vater.“
Merkanto seufzte. „Wir können uns nicht aussuchen, als was wir geboren werden, Iljan. Das hatten wir doch schon. Wir alle müssen unsere Rolle akzeptieren.“
„Und was, wenn nicht?“, fragte Iljan aufgeregt. „Es gibt Geschichten von guten Wesen, die zu Schattenländern wurden. Wieso nicht andersherum?“
Merkanto riss die Augen auf. „Das willst du versuchen? Iljan, das wäre dein Tod!“ Der Zauberer sprang auf. „Ich rufe Nepumuk zurück, jetzt.“
„Nein, Merkanto, bitte!“ Iljan versperrte ihm den Weg. „Selbst wenn ich sterbe, wäre ich immer noch glücklicher als hier. Lass es mich wenigsten versuchen. Denn wenn das nicht klappt, bleibt mir nur ein Ausweg.“
„Iljan …“ Der Magier zögerte. Seine Unentschlossenheit malte sich auf seinem Gesicht ab, dessen Ausdruck rasch zwischen Zuneigung und Wut wechselte. „Du weißt, ich wünsche dir alles Glück der Welt, mein Junge. Aber ich kann dich nicht auf eine solche Selbstmordmission ziehen lassen. Sie werden dich in der Luft zerreißen.“
„Ich habe einen Plan“, widersprach Iljan mit fester Stimme. „Über die geheimen Pfade der Werwölfe kommt man ungesehen bis zur Grenze. Ich weiß auch schon, wie wir ins Schattenland gelangen. Danach werden wir uns notfalls bis zur Königin durchkämpfen.“
„‚Wir‘?“, fragte Merkanto.
Iljan nickte. „Ich habe eine Freundin, Jackie. Sie wurde von den Werwölfen aus dem Sonnenland verschleppt.“
Merkanto atmete tief durch. „Das klingt immer noch sehr unsicher.“
„Natürlich ist es ein Risiko“, sagte Iljan. „Aber wir müssen es wagen.“
Merkanto schüttelte den Kopf. „Weißt du, was dein Vater mit mir anstellt, wenn er herausfindet, dass ich Bescheid wusste und nichts getan habe? Wieso hast du mit mir sprechen müssen, Iljan? Du lässt mir doch keine Wahl.“
„Oh doch!“ Iljan streckte sich ein Stück. „Merkanto … willst du mit uns kommen?“
„Was?!“
„Heute Abend brechen wir auf“, sagte Iljan und seine Stimme gewann erstmals an Sicherheit. „Du hast mir oft genug erzählt, wie leid du die Kriege bist. Also komm mit uns.“
Merkanto schüttelte den Kopf. „Iljan, ich bin Befehlshaber der dunklen Armee. Sie würden nie -“
„Du hast immer ehrenvoll gekämpft. Sie werden dir verzeihen.“
Der alte Zauberer zögerte. „Es ist deutlich wahrscheinlicher, dass wir alle sterben.“
Iljan nickte. „Dann sterben wir für einen guten Zweck, statt zu leben, um der Dunkelheit zu dienen.“
„Verdammt noch eins, Iljan … das hast du gut gesagt. Also schön, wo treffen wir uns? Und ich muss dich vorwarnen – ich werde noch jemanden mitbringen.“
„Wen?“, fragte Iljan, als ein lauter Alarm durch das Schloss hallte.
Vampir und Magier zuckten zusammen.
„Nepumuk!“, fluchte Merkanto. „Iljan, lauf. Jetzt. Bevor dein Vater hier ist.“
„Aber …“
„Kein Aber! Hol deine Freundin und dann flieht!“
„Wenn Vater herausfindet …“
„Er wird es nicht herausfinden. Lauf, Iljan. Mir wird nichts passieren.“ Merkanto eilte zum Regal hinter seinem Schreibtisch und warf einige Bücher hinaus. Dahinter kam ein Fläschchen mit einem Zaubertrank zum Vorschein. Merkanto zeigte es Iljan, dessen Augen sich weiteten.
„Amnesietrank … aber …“
„Keine Sorge, dein Vater wird von mir nichts erfahren.“ Merkanto entkorkte das Fläschchen. „Flieh, Iljan. Ich wünsche dir viel Glück, dass dein Traum wahr wird. Und … es war schön, dich gekannt zu haben, mein Junge.“
Damit kippte er den Inhalt der Flasche hinunter.
Tränen stiegen in Iljans Augen, während er sich taumelnd zum Gehen wandte. Er weinte, als er die Wendeltreppe hinab lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Der Trank vernichtete alle aktiven Erinnerungen, also würde Merkanto alles vergessen, das ihm in den nächsten Minuten durch den Kopf ging. Doch solche Tränke hatten auch Nebeneffekte. Es war unwahrscheinlich, dass Merkanto sich nachher überhaupt noch an einen Vampir namens Iljan erinnern könnte. Was er sonst noch vergessen könnte, würde Iljan vermutlich niemals erfahren.
Amnesietränke trank man nicht selbst, man flößte sie Feinden ein. Aber so war Merkanto nicht – er nutzte die Waffe gegen sich selbst, um Iljan ein friedliches Leben zu ermöglichen.
Der Vampir rannte weiter. Nun musste er es auch unbedingt schaffen, sonst wäre Merkantos Opfer umsonst.