„Was soll das darstellen, Raphaele?“
Iljan zuckte zusammen. Sogleich verlor er das Gleichgewicht und stürzte nach unten. Er schlug mit den Fledermausflügeln, die sich anfühlten wie eine Verkleidung. Dann prallte er gegen etwas Hartes – Steinwand – und gleich darauf gegen etwas anderes Hartes – Steinboden – auf dem er zu liegen kam.
„Willst du mich eigentlich beleidigen?“, fuhr die barsche Stimme seines Vaters fort. „Das gelingt dir ausgezeichnet! Ich weiß schon, warum ich die Fenster abhängen lasse. Wenn jemand das sehen würde, wären wir beide das Gespött des ganzen Schattenlandes!“
Mühsam drückte sich Iljan mit den dünnen Ärmchen hoch. In Fledermausgestalt war er nur wenig größer als zwei nebeneinandergelegte Handflächen. Und alles fühlte sich falsch an. Der Kopf war zu groß, die Schwingen zu unhandlich mit ihren Lederhäuten zwischen den langen Fingergliedern, die Ohren waren viel zu geräuschempfindlich und die Krallen so klein und zerbrechlich!
Ein Knall ertönte. Nepumuk hatte gegen irgendetwas geschlagen. Iljan wusste nicht, gegen was, denn das war der größte Nachteil der Fledermaus.
Man war blind. Darauf angewiesen, dass die wild zuckenden Ohren die Geräusche richtig deuteten, um einen perfekten Flug zu ermöglichen. Hilflos drehte Iljan den Kopf.
„Na los!“, fauchte Nepumuk und erneut knallte es.
Mit flatterhaften Flügelschlägen hob Iljan ab. Blind zu fliegen war wie Fallen, nur um ein vielfaches schlimmer. Zwar konnte man überleben und würde mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht zu Tode stürzen, doch der Aufprall konnte dafür jederzeit und aus jeder Richtung erfolgen. Iljan presste die Augen noch etwas fester zusammen. Seine Ohren zuckten wild.
„Du musst dich konzentrieren!“, stöhnte sein Vater genervt. „Flieg auf der Stelle und richte die Ohren aus!“
Iljan zog den Kopf zwischen die Schultern und konzentrierte sich auf die Flügelschläge. Auf der Stelle fliegen. Dabei musste man genauso viel Kraft nach vorne wie nach hinten richten und natürlich nebenbei noch das Gleichgewicht halten. Er schlug vorsichtig und schnell mit den Flügeln, dann immer kraftvoller und selbstbewusster. Ja … ja, das fühlte sich richtig an! Und jetzt die Ohren!
Er spitze die langen Fledermausohren und merkte, wie sich die winzigen Muskeln darin langsam entspannten. Er konnte hören … er hörte den Wind um seine Schwingen, hörte, wo dieser gegen die Wände stieß … ja, fast …
„Raphaele! Du willst mich heute wirklich wütend machen!“
Iljan hörte noch etwas heranzischen, als er auch schon getroffen wurde und durch die Luft trudelte. Er landete weich. Das Bett.
Verwirrt stemmte er die Ärmchen gegen die weichen Decken, die ihn wie ein Sumpf aufnehmen wollten. In seinen Ohren klingelte es von dem Zusammenstoß. Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben.
„Du hältst das hier wohl für ein Spiel!“, schnaubte Nepumuk. „Nun, lass mich dir eines sagen, ich finde dein Herumgeeiere alles andere als amüsant! Wenn du meinst, dass du deine Ausbildung auf die leichte Schulter nehmen kannst, dann muss ich dich leider enttäuschen, Junge.“
Blind krabbelte Iljan über die Decke. Er war drei Jahre alt und sein Herz klopfte wild vor Angst, dass ihn irgendetwas auf der Decke treffen und in ein weiches Grab schlagen könnte.
„Schneller! Schneller!“
Die Gänge im Grafenschloss waren lang. Iljan rannte vorbei an antiken Gemälden, an Statuen, an Vasen. Vorhänge bogen sich im Wind, wenn er vorbeirauschte. Die roten Teppiche konnten seine Schritte nicht ganz dämpfen.
„Du rennst wie ein Troll in Kriegsrüstung!“, donnerte Nepumuk. „Nur langsamer!“
Kein Spiegelbild zeigte sich in den vielen großen Spiegeln zu beiden Seiten des Ganges, doch jedes Mal, wenn er zwischen zwei großen Spiegeln hindurch rannte, sah Iljan unendliche Gänge zu beiden Seiten, eine endlose Reihe an vergangenen und zukünftigen Trainingseinheiten. Sein Leben.
Er jagte zum Ende des Ganges und krachte ungebremst gegen die Wand des Treppenhauses. Putz rieselte aus den Lücken der dicken Steine. Mehrere lockere Stellen zeugten von früheren Versuchen.
Iljan senkte den Kopf und Nepumuks kurze Gerte traf klatschend seinen Nacken.
„Davon abgesehen warst du auch schon wieder zu langsam. Du meinst vielleicht, dass das reicht, aber einen richtigen Vampir hängst du so niemals ab. Und – bist du etwa außer Atem?! Wie oft noch, Raphaele? Haltung!“
Iljan schluckte und nickte. Ja, er spürte sein Herz rasen und den Atem schnell und flach gehen. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung waren Vampire keine wandelnden Leichen. Sie besaßen Herzschlag und Atem wie alle anderen, doch beides war normalerweise so schwach, dass man es nicht wahrnehmen konnte. Anstrengung konnte einen Vampir nur selten außer Atem bringen, selbst wenn er über seine Grenzen ging, dafür Blutmangel und Emotionen umso mehr.
Nepumuk legte die Hand unter Iljans Kinn und zwang seinen Kopf nach oben. Scharf sah er seinem Sohn in die Augen. „Du hast dein Frühstück schon wieder verschmäht! Warum?“
„Ich … Vater, ich kann das nicht!“ Tränen schimmerten in Iljans dunklen Augen. „Ich …“
„Du bist ein Schwächling!“, knurrte Nepumuk und ließ Iljans Kopf los. Dafür packte er den Sohn an der Schulter und schleifte ihn durch den Gang, dann durch eine Flügeltür in eines der vielen Zimmer. Es war eines derjenigen, die kaum genutzt wurden. Einige Statuen und Kunstgegenstände standen herum, solche, die Nepumuk von Schmeichlern als Geschenke erhalten hatte. Natürlich nur diejenigen, die ihm nicht gefielen. Es gab auch ein rundes, rotes Bett mit Baldachin in der Mitte des Raumes und an einer Seite eine Kommode mit Türen aus geflochtenen, flachen Holzstreifen. Nepumuk bückte sich, öffnete das Schränkchen und stieß auf mehrere verkorkte Flaschen mit roten Inhalt. Er wühlte darin, warf ein paar andere Dinge beiseite – er sagte immer, Iljan wäre noch zu jung, um zu wissen, was das sei – und wählte dann eine Flasche aus. Er reichte sie dem Jungen. „Trink.“
Iljan zog den Korken geschickt aus der Flasche und sah missmutig auf den Rand bräunlichen, getrockneten Blutes, der sich am Korken und Flaschenhals gebildet hatte. Er führte die Flasche an die Lippen und bebte. Seine Hände wollten das bauchige Gefäß einfach nicht anheben. Er zwang sie mit reiner Willenskraft dazu, denn die rot glühenden Augen seines Vaters spiegelten sich im Glas.
Der erste Schluck schmecke warm und glitschig. Dann süß. Viel zu süß. Ein Teil von Iljan wollte schier in die Flasche kriechen, im Blut baden, noch viel lieber in warmen, frischem Blut. Der andere Teil wollte dieser dunklen Gier keinen Raum zugestehen. Krämpfe schüttelten Iljan. Er würgte.
„Trink, verdammt!“ Nepumuk zog eine weitere Flasche aus dem Schränkchen. „Was soll dieses Theater? Bist du ein Vampir oder ein verfluchter Elf? Trink, als wärst du tatsächlich mal gut in irgendwas! Ich habe ja inzwischen echt niedrige Erwartungen. Ich bin froh, dass du wenigstens geradeaus laufen kannst und keinen Buckel hast.“
Iljan trank. Er war fünf Jahre alt und kämpfte gegen den Würgereiz an.
So ging es weiter. Iljan erlernte die Hypnose und die Monstergestalt, die mächtigere Version der Fledermausform. Er lernte, wer im Schattenland etwas zu sagen kannte. Er lernte höfische Konversation, Tanzen, er lernte sechs Instrumente, darunter die Harfe, obwohl sein Vater von letzterem weniger begeistert war. Er lernte und lernte und lernte.
Und nie war es gut genug.