Tommy rang um Fassung. Er wollte nicht weinen, nicht jetzt.
»Sei nicht so fies«, sagte er zu Alex.
»Ich? Fies? Wer ist denn hier der verdammte Verräter?« Alex schlug gegen die Wand. Im Wohnzimmer brüllte ihre Mutter trunken, dass sie still sein sollten. Keiner der Brüder beachtete sie.
»Ich will doch nur …«
»Abenteuer erleben? Ist es das? Wie konntest du dich nur darauf einlassen?« Alex schüttelte den Kopf. »Du bist doch kein Soldat, Tommy. Die werden dich töten!«
»Das weißt du nicht! Und du solltest mich viel lieber unterstützen.« Die Wahrheit war, dass er furchtbare Angst davor hatte, was geschehen würde. Er fühlte sich aus seinem Leben herausgerissen. Und Alex, den er jetzt mehr denn je brauchte, wandte sich gegen ihn.
Morgen sollte er mit dem Vertreter der Engel aufbrechen und er musste noch packen, doch die Panik machte das unmöglich.
Und Alex war absolut keine Hilfe.
»Ich soll dich unterstützen? Warum? Du Arschloch lässt mich hier einfach zurück!«
»Du sollst nicht fluchen, Alex. Das lockt Dämonen an.«
»Das ist ein Märchen für Kinder. Du bist so naiv, Tommy! Und da willst du in den Krieg?«
»Ich muss!« Aber Alex sprach genau die Ängste aus, die auch ihn plagten. Tommy war nicht bereit für das Soldatenleben. Vielleicht würde er es niemals sein.
»Einen Scheiß musst du!«, brüllte Alex. Er stürmte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Tommy ließ sich auf das Bett sinken und schluchzte auf. Wieso nur nahm Alex seine Ankündigung, mit den Engeln zu gehen, so furchtbar schlecht auf? Er tat es für ihn, aus keinem anderen Grund würde er sich anheuern lassen. Aber mit dem Einfluss und der Macht der Engel könnte er vielleicht selbst nicht lange überleben – aber er könnte Alex genug Geld schicken, um ihm ein Leben im Reichtum zu ermöglichen.
Und vielleicht würden die Engel ihn wirklich zu einem besonderen Krieger ausbilden und er würde allen Frieden bringen! Angesichts dieser Möglichkeit musste er jedes Risiko eingehen.
Aber er hatte gehofft, dass sein Bruder ihm dabei helfen würde.
Der unglückliche Vorfall mit Mari fiel ihm wieder ein. Alex war schon immer unberechenbar gewesen. Das jetzt war nur ein weiterer Beweis dafür.
Tommy seufzte und kauerte sich auf dem Bett zusammen.
»Hör auf, zu flennen«, brummte seine Mutter durch die Wand. »Lass dir das von ihm nicht vermiesen. Und jetzt pack.«
Vermutlich hatte sie recht. Tommy wischte sich die Tränen ab. »Ja, Mutter.« Schwerfällig stand er auf.
Hoffentlich würde sich Alex noch beruhigen, sodass sie sich wenigstens verabschieden könnten …
Mit Tränen in den Augen rannte Alex über die Wiesen. Wut und Angst tobten in seinem Herzen. Tommy würde in der Armee nicht überleben können, das war ja fast ausgeschlossen. Alex kannte seinen Bruder, und er wusste, dass Tommy ein Träumer war. So hart er auch trainierte, Tommys Talente lagen eben woanders.
Und dieses wunderbare Licht in seiner Seele würde mit ihm untergehen, wenn die Engel ihn in die Fänge bekamen.
Und Alex würde völlig allein mit der Finsternis in ihrer kleinen Hütte zurückbleiben, ganz ohne die Stärke, die ihm sein Bruder verlieh.
Doch in diese Furcht mischte sich eine ungeheure Wut. Der Engel hatte ihm das Angebot zuerst unterbreitet! Er hatte gesagt, Alex wäre einzigartig. Und nun war plötzlich Tommy auserwählt? Was für einen Sinn ergab das?
Welches Spiel spielten die verlogenen Engel?
Keuchend hielt er an, als er merkte, dass es um ihn herum dunkel war. War die Sonne bereits untergegangen?
Dann erkannte er, dass er am Rand eines Waldes stand. Er kannte diesen Forst vom Sehen, er lag hinter der Grenze.
Im Schattenland.
Sein Leben hatte Alex neben der Grenze gewohnt. Als Kinder hatten sie sich manchmal einen Spaß daraus gemacht, als Mutprobe hinüber zu gehen, zu sehen, wer sich wie weit auf die Wiesen vorwagte. Es gab keinen Grenzzaun und keine Markierung, doch der Wald gehörte eindeutig zum Reich des Feindes.
Aber noch nie war Alex nach Einbruch der Dunkelheit hier gewesen. Und nun hing die Sonne schon tief über den Bergen und eine Art dunkler Nebel waberte um ihn her.
Er wollte zurückweichen, als er eine Stimme auf dem Wind vernahm: »Ich tue dir nichts, kleiner Mensch.«
»H-hallo?«
Eine Gestalt erhob sich aus den Schwaden, die sich mehr und mehr verdichteten, bis ein schwarzgekleideter Mann Alex gegenüberstand. Seine Augen glühten rot. »Um ehrlich zu sein, könntest du mich mit einem Gedanken vernichten, kleiner Mann.«
Alex schluckte. Was meinte das Wesen? »Ich bin fast erwachsen«, hielt er dem Schatten vor. »Was willst du? Lass mich gehen.«
Die Schwaden um ihn herum teilten sich. »Natürlich. Du darfst gehen, wann du willst. Doch ich denke, du willst etwas von mir.«
»Was könnte ich von einem Schattenländer wollen?«
»Die Wahrheit.«
Alex erstarrte auf halbem Weg zurück zur Grenze. Er drehte sich um und sah dem Rotäugigen in die Augen. »Ihr Wesen lügt doch immer!«
»Aber du kannst Emotionen spüren«, flüsterte das dämonische Wesen. »Du wüsstest es, wenn ich lüge. Und ich weiß auch, woher diese Fähigkeit kommt.«
»Wie meinst du das?« Alex wusste, er sollte dem Feind nicht glauben, aber das Wesen hatte recht. Er konnte spüren, dass es die Wahrheit sagte.
»Du bist so viel mächtiger als dein Bruder. Und doch wurde er dir vorgezogen.«
»Das war allein seine Entscheidung«, knurrte Alex.
»Und du wirst deswegen zerbrechen.«
»Ich komme gut allein zurecht!«
»Es geht nicht um deine Kampffähigkeiten oder deine Stärke«, widersprach der Dämon ernst. »Doch ohne deinen Bruder kannst du nicht lange überleben. Weil ihr keine Brüder seid.«
»Was?«
Ein breites Grinsen teilte das dunkle Gesicht des Wesens. »Die Engel belauern euch beide schon so lange … genau wie ich. Weißt du, deine Mutter kann ihre Liebe nicht mehr zeigen, doch sie empfindet sie. Wärst du ihr nicht so nah, würdest du es spüren können.«
Tatsächlich hatte Alex ab und zu einen Schimmer jener Liebe unter all dem alten Hass und der Verbitterung gespürt. Doch er war sich nie sicher gewesen. Mütterliche Gefühle? Das kam ihm verrückt vor.
»Als ihr Sohn geboren wurde, wollte sie ihn schützen«, sprach der Schattenländer weiter. »Und so ging sie in der Nacht und vollführte ein Ritual. Sie ging mit einem Jungen, aber sie kehrte mit zweien zurück. Zwillinge – selbst sie könnte sie nicht unterscheiden. Aber wir, wir beide kennen die Wahrheit.«
Alex schüttelte langsam den Kopf. »Du … lügst …« Doch er wusste, dass der Dämon die Wahrheit sprach.
»Sie rief einen Schutzengel für ihren Sohn. Dich, Alex. Du bist Tommys Beschützer. Deswegen bist du so ein guter Kämpfer, so stark, daher stammen deine Kräfte.«
»Nein …«, murmelte Alex.
»Doch jetzt benötig Tommy dich nicht länger. Er wirft dich einfach weg. Und du fühlst es – du kannst ohne ihn nicht leben.«
Alex starrte auf seine Hände. Nun, auf einmal, schien alles einen Sinn zu ergeben.
»Ich bin …«
»Nur eine Marionette.« Der Rotäugige beugte sich vor. »Du wirst niemals frei sein, solange Tommy lebt.«
Ein Schauer rann über Alex‘ Rücken. Es war, als würde all die Dunkelheit herausbrechen, die er in den Jahren an der Seite seiner Mutter aufgenommen hatte. Er fühlte sich wie ein Schwamm, der zusammengedrückt wurde und nun dunkle Flüssigkeit ausschied. Sein Atem wurde flach und schnell.
Der Dämon lehnte sich grinsend zurück. »Jetzt«, flüsterte er leise.
Und Alex drehte sich um und rannte zurück ins Sonnenland.