Elysa legte der schluchzenden Frau beide Hände auf die Schultern. Es war eine Menschenfrau mit wildem, rotem Haar und sie war am Boden zerstört.
»Wir finden Eure Töchter«, versprach Elysa ihr ernst und nickte auch dem Mann zu, der neben seiner Frau saß.
»Vielen Dank, hohe Magierin! Es ist nur … es gab so viele Tote.« Die Frau wischte sich Tränen vom Gesicht. »Wir wissen ja nicht mal, ob sie überhaupt noch leben!«
»Es gab keine Leichen Eurer Töchter«, beruhigte Elysa sie sanft. »Das kann nur bedeuten, dass die Werwölfe sie verschleppt haben. Die beiden leben also noch.« Sie überlegte kurz. Was waren die Namen der Kinder gewesen? »Jacky und Louise leben noch.«
Als sie sich der Pforte von Umira näherte, verspürte Elysa eine merkwürdige Mischung aus Freude und Furcht. Sie wusste, dass Alastair Taidoni sie erwarten würde. Ob er seinen Sohn Nepumuk bei sich hatte? Seit jenem Treffen mit den Engeln und dem Dämon hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und das war nun einige Jahrzehnte her. Nicht viel Zeit für die Unsterblichen von Licht und Schatten, aber doch eine quälende Zeitspanne. Die verwirrenden Gefühle hatten sich noch nicht gelegt. Sie fieberte dem erneuten Treffen entgegen, seit sie von dem grausigen Angriff gehört hatte, der es rechtfertigte. Aber sie fürchtete sich auch. Zu leicht könnten ihre Hoffnungen enttäuscht werden. Hoffnungen, die sie nicht einmal zu formulieren wagte, und die doch seit Jahrzehnten durch ihren Kopf kreisten.
Sie atmete auf, als sie zwei Gestalten in der Pforte sah, eine rothaarig, die kleinere silberhaarig. Im gleichen Moment fragte sie sich, ob Nepumuks Anwesenheit die Sache wirklich besser machte – und nicht viel schlimmer.
»Hier bin ich«, sagte Alastair gedehnt. Er war offenbar gar nicht erfreut, zur Grenze zitiert zu werden.
Elysa marschierte auf den Platz zwischen den Steinen. »Ihr seid zu weit gegangen! Eure verdammten Bestien haben ein friedliches Dorf überfallen! Sie haben Unschuldige abgeschlachtet, die noch nie in ihrem Leben an der Front gestanden haben, und zwei Mädchen entführt.«
»Es sind nicht unsere Bestien«, erwiderte Alastair scharf. »Die Werwölfe handeln auf eigene Faust.«
»Es wird eine Vergeltung für diesen Angriff geben.« Elysa sah, wie Nepumuk sich versteifte. Der junge Vampir hatte sich kaum verändert. Er war nur älter geworden. Nun sah er eher aus wie zwanzig, vielleicht dreißig. Sie wünschte, sie würde ihn unter anderen Voraussetzungen treffen können. Und nicht dann, wenn sie die zornigen Worte ihrer Königin wiederholen musste. »Und wir wollen die Mädchen zurück. Es sind Sonnenländer.«
»Die Werwölfe entführen immer einige von euch«, widersprach Alastair wenig beeindruckt. »Meine Königin kann ihnen schlecht befehlen, die Mädchen wieder herauszurücken. Das ist unmöglich.«
Es würden zähe Verhandlungen werden. Elysa straffte sich.
Einige Stunden später rauschte Alastair zornig davon, um mit der Königin der Nacht Rücksprache zu halten. Elysa schluckte, als ihr klarwurde, dass sie mit Nepumuk allein zurückblieb.
Sie atmete durch und gestattete sich ein Seufzen. »Dein Vater ist ein ordentlicher Gegner.«
Der weißhaarige Vampir hob den Blick. »Deshalb hat die Königin ihn ja als ihren Vertreter ausgewählt.«
Elysa lächelte schwach, dankbar, dass der Vampir auf ihren Gesprächsversuch einging.
»Aber Ihr … du bist auch nicht zu unterschätzen.«
»Deswegen hat die Königin des Tages mich ja als ihre Vertreterin ausgewählt.« Er grinste darauf. Elysa sah seinem Vater nach, der sich auf der Suche nach einer Pfütze befand. Diese Spiegelmagie konnten die Vampire nutzen, um über große Entfernung zu kommunizieren. »Für einen Schattenländer ist er gar nicht so übel. Unter anderen Umständen könnte ich ihn vielleicht sogar mögen.«
Und dich ebenfalls. Das sprach sie jedoch nicht aus.
»Manchmal frage ich mich, wie die Welt ohne den Krieg aussähe«, murmelte Nepumuk traurig. »Wie viele Freundschaften wohl deshalb nicht geschlossen werden?«
»Unzählige«, murmelte Elysa.
»Und dann die Liebe.« Nepumuk klang wehmütig. »Ist die Geschichte im Sonnenland bekannt?«
»Ich weiß, dass du einen Sohn hast«, erklärte Elysa. Und es hatte sie entsetzt, davon zu hören, bis ihr etwas Erlösendes zu Ohren gekommen war. »Und seine Mutter ist tot.«
»Sie war eine Sonnenländerin. In meiner Heimat wusste jeder, wie vernarrt ich in sie war. Doch als Iljan sieben Jahre alt war, hielt sie es nicht mehr aus. Ich … ich hätte ihr die Welt zu Füßen gelegt, aber sie konnte das nicht erwidern.«
Elysa empfand ein Mitleid, dessen Intensität sie schmerzte. Nepumuk hatte etwas besseres verdient. Die Trauer in seinem Blick brach ihr das Herz. Dass die Geschichte seiner Familie so tragisch war, hatte sie nicht gewusst. Oder dass es eine Sonnenländerin war, die er geliebt hatte.
»So übel bist du sicherlich nicht«, scherzte sie, um ihn aufzumuntern.
»Vermutlich nicht.« Er lächelte schwach. »Es bräuchte nur ein friedliches Abendessen, um das zu beweisen. Oder einen Tag gemeinsamer Unternehmungen. Du würdest es ebenfalls so sehen.«
Ihr Herz machte einen Satz. War das etwa ein Angebot?
»Aber es darf nicht sein«, machte Nepumuk im nächsten Moment alle Hoffnung zunichte. »Du bist die höchste Magierin der Sonnenkönigin, und ich werde eines Tages in die Fußstapfen meines Vaters eintreten.«
Aber er wünschte es sich. Das war schon mehr, als sie sich je erhofft hätte.
Nepumuk lächelte schwach. »Falls du aber je die Seiten wechseln solltest, wärst du im Schloss meines Vaters jederzeit willkommen.«
Das war unmöglich. Elysa wusste es. Niemals könnte sie ihre Königin und ihr Land verraten. Nicht für die Schattenseite, die so eindeutig die Bösen waren, die Mörder und Entführer, die Leidbringer.
Nepumuk drehte sich um und Elysa bemerkte, dass Alastair zurückkehrte. Sein Blick war finster.
»Also«, sagte der rothaarige Vampir, ohne mehr als einen flüchtigen Blick für sie beide übrig zu haben. »Die Werwölfe werden wir nicht zwingen, die Mädchen auszuliefern. Es könnte alles verraten. Die Lichtkönigin wird das verstehen. Wir werden dafür eine Lücke an der Front generieren, durch die euer Vergeltungstrupp eindringen kann.« Er reichte Elysa ein zusammengerolltes Pergament. »Hier. Auf dieser Karte ist das Gebiet des entsprechenden Rudels eingezeichnet. Vielleicht können eure Soldaten bis dorthin vordringen und die Mädchen befreien.«
Elysa schluckte. Das war eine geringe Chance, denn die Krieger müssten weit ins Schattenland eindringen. Mit schlechtem Gewissen dachte sie an das Versprechen, das sie den verzweifelten Eltern gegeben hatte.
Sie nickte jedoch. Die Schattenländer kamen ihnen weit entgegen. Diesen Kompromiss musste sie einfach akzeptieren.
»Danke.«
Alastair schnaubte. »Ich brauche deinen Dank nicht. Du hast ja nicht nachgeben wollen.«
Elysa seufzte. Letzten Endes hatte sie die beiden Mädchen nun doch aufgeben müssen. Es war unmöglich, sie zu retten, ohne das geheime Abkommen zu gefährden. Niemand durfte von den Absprachen wissen, weshalb auch immer nur die Vertreter der Königinnen zur Grenze reisten.
Aber sie hatte viel im Austausch bekommen. Ihre Vergeltung würde dem Schattenland schwer zusetzen. Und es bestand eine geringe Chance, Jacky und Louise Chast zu retten.
Doch es war eine sehr geringe Chance. Die Kinder waren auf sich gestellt.