Hinweis: "Ventus" fungiert als erweiterter Epilog zu "Niemandsmond" und sollte erst nach "Neumond" gelesen werden - Spoilergefahr!
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Higher than the boundaries of the sky.*
Nachdem sie Abschied genommen hatten, war Askook unsicher, wohin er sich wenden sollte. Er wollte nicht zurück nach Hause – er hatte zu lange versucht, den Slums zu entkommen. Irgendwann wäre es vielleicht eine lohnende Aufgabe, die anderen Drachen und Drachlinge zu befreien. Doch vermutlich würde Iljan bei dieser Aufgabe keine Hilfe benötigen.
Als er die Pforte verließ, sah er Jackie auf den Wiesen stehen. Die Wölfin sah auf die Wiesen des Sonnenlands, während der Wind an ihrem kurzen Haar zupfte.
»Alles in Ordnung?« Er beugte den Kopf über sie.
Jackie sah auf. »Schon. Ich schätze, es wird auch für mich Zeit, nach Hause zu gehen. Sehen, wer noch übrig ist. Ihnen sagen, was aus meiner Schwester geworden ist.«
»Aber …?«
Jackie seufzte. »Ich war so lange nicht mehr dort. Meine Eltern sind tot, mein damaliger bester Freund auch. Ich weiß nicht einmal, mit wem ich dort sprechen sollte.«
Askook senkte den Kopf und stupste Jackie sanft an. »Warum suchen wir uns nicht eine Ausrede? Wir sagen, wir kommen im Auftrag der neuen Königin. Dann kannst du dich unverbindlich umsehen und brauchst nicht einmal zu sagen, wer du bist. Was denkst du?«
Jackie schwieg eine ganze Weile, bis Askook schließlich nervös wurde. »Es war nur ein …«
»Wir?« Die Wölfin sah auf. »Du kommst mit?«
»Natürlich – wenn du nichts dagegen hast. Ich hatte keine große Gelegenheit, das Sonnenland kennenzulernen.«
Jackie lächelte breit. »Liebend gerne, Askook. Danke.«
In your darkest hour, learn to shine.
Schließlich schlossen sich ihnen auch Stella und Najaxis an. Das Einhorn wollte, bevor es seine Rolle als Terzabrax‘ Heerführerin einnahm, nach den Mondhörnern suchen.
»Kea soll erfahren, dass ihr Kampf nun endlich vorüber ist. Die Mondhörner müssen sich nicht länger verstecken. Und ich will sie fragen, ob sie sich uns nicht anschließen wollen. Ihre Umira-Fähigkeiten machen sie zur perfekten Palastgarde.«
»Die Idee ist schön«, meinte Jackie lächelnd.
»Mal sehen, was sie dazu sagen. Und wo sie sich befinden.«
Im Falle des Inkubus‘ behauptete Naja, dass er sich ebenfalls das Sonnenland ansehen wollte, bevor er heimging. Askook hatte das Gefühl, dass der Inkubus sich eher vor der Heimkehr drücken wollte. Doch er schwieg. Naja hatte sich in den Kämpfen mehr als bewiesen. Er hatte sich sehr verändert, während Askook im Stab gewesen war. Sicherlich würde er auch noch den Mut finden, sich seiner Familie zu stellen.
Sie nahmen Abschied von Terzabrax, Merkanto, Maruscha und Nejakai, um aufzubrechen. Jackies Dorf lag nicht weit entfernt, und so nutzten sie die Drachenmagie, damit Stella in Windgestalt neben ihm galoppieren konnte.
Far beyond the limits of your mind.
Noch am selben Tag, nur einige Stunden später, landeten sie in der Nähe eines malerischen, kleinen Dorfes an einem Fluss, umgeben von Schafsweiden.
Die Bewohner liefen zusammen, als sie einen großen Sonnenlanddrachen landen sahen. Askook setzte Naja und Jackie ab, dann gingen sie zu Fuß zu den strohgedeckten Hütten.
»Jackie? Jackie Chast?« Ein älterer Mann trat vor, ein runzeliger Elb, der sich schwer auf einen Stock stützte.
»Hallo, Sir.« Die Wölfin zog die Schultern hoch.
»So viel zum Thema Heimlichkeit«, murmelte Naja halblaut. »Wer ist der Kerl?«
»Equirius. Er war der Vater meines besten Freundes, Dor'quinel.« Jackie setzte ein Lächeln auf, als der Elb zu ihnen kam. Befangen umklammerte sie den Saum ihres Hemdes und versteifte sich, als der Elf sie in eine feste Umarmung zog.
»Wie schön, dass du endlich zurück bist! Ich habe die Nachrichten über dich und deine Gruppe verfolgt, seit ihr das erste Mal im Sonnenland aufgetaucht seid. Und jetzt sieh dir an, was du geschafft hast! Ich bin stolz auf dich!«
»Ich … danke.« Jackies Stimme klang auf einmal gepresst. Sie erwiderte die Umarmung verzögert. Askook, Stella und Naja warteten geduldig, bis sich die beiden schließlich voneinander lösten. Jackie wischte sich über die Wangen. »Ich … wusste nicht, wer noch hier ist.«
»Den Überfall haben damals nicht sehr viele überlebt«, sinnierte der Elb niedergeschlagen. Dann fragte er behutsam: »Was ist mit deiner Schwester? Es hieß, dass ihr beide entführt wurdet, doch …«
Jackie senkte den Blick.
»Es tut mir so leid.« Der Elb begriff sofort. »Ich hatte es befürchtet.«
»Sie war sehr tapfer«, sagte Jackie kleinlaut.
»Das glaube ich sofort. Sie war immer ein besonderes Mädchen. Komm, Jackie. Ich muss dir etwas zeigen.« Der Elb streckte die freie, leicht zittrige Hand aus und schloss die langen Finger um Jackies. Dann humpelte er voran. Askook folgte mit langsamen Schritten in das Dorf hinein, direkt über die Hauptstraße. Die meisten Dorfbewohner schienen Jackie nicht persönlich zu kennen und beobachteten die Fremden aus den Öffnungen ihrer Türen heraus oder durch die Fenster.
Die Blicke, die ihnen folgten, waren vielfältig. Manche sahen misstrauisch aus, andere wirkten neugierig. Doch es gab auch zornige, hasserfüllte Mienen. Es würde noch ein weiter Weg sein, bis die 'Kinder der Sonne' hier akzeptiert wären.
Sie überquerten den Marktplatz und begaben sich ans Flussufer, wo sich ein von Hecken umrahmtes Feld anschloss. Askook reckte den Kopf und erkannte ordentliche Grabreihen: Ein Friedhof, der eingebettet zwischen den Hütten lag, statt verstohlen außerhalb der Siedlungsgrenzen. Equirius führte Jackie durch einen begrünten Torbogen. Askook blieb stehen, da er hier unmöglich hindurch passte, doch er konnte den Hals zu der kleinen Gruppe strecken, die schließlich vor einer weißen Statue hielt. Dargestellt war eine Frau, den Kopf gesenkt, sodass das gelockte Haar ihr Gesicht verdeckte. Sie hielt die Hände vor dem Körper gefaltet. Wenngleich sie trauerte, hatte sie die weißen Schwingen schützend ausgebreitet.
Auf den Sockel waren Namen eingraviert, und dort, zu den Füßen der Statue, lagen Blumen und Kränze, manche frisch, einige bereits angetrocknet.
»Das ist ein Denkmal für die Gefallenen«, erklärte Equirius. Der Elb hockte sich mit leichtem Ächzen hin und strich über die Namen. Askook konnte erkennen, dass ein Name ausgekratzt worden war. Equirius zeigte jedoch auf den Namen darüber.
»Louise«, flüsterte Jackie.
»Wir haben sie nie vergessen«, erklärte der Elb. »Aber du hast keine Ahnung, wie froh wir waren, deinen Namen wieder entfernen zu können.«
Jackie nickte nur. Dann ging sie langsam auf die Knie und strich über die eingravierten Sonnenlandrunen. Sie fand offenbar weitere Namen, die sie kannte. »Mum und Dad. Und Darry …«
Equirius legte den Arm um sie. »Solange wir uns an sie erinnern, sind sie nicht fort.«
You are light.
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*»You are Light«, Thomas Bergersen feat. Felicia Farerre