Wehmütig sah Elysa nach Norden. Der Wind strich durch ihr langes Haar und spielte mit ihrem weißen Kleid. Wolken zogen über den wunderschönen Hügeln der Ebene von Mîm dahin, doch selbst dieser Anblick vermochte ihre Stimmung nicht zu heben.
Wochenlang hatte sie auf eine weitere Nachricht von Nepumuk gewartet. Gehofft. Und nachts geweint. Sie hatte versucht, ihn über den Spiegel zu erreichen, doch sein Ebenbild erschien nie darauf. Dann waren die Wochen zu Monaten geworden, schließlich zu Jahren. Sie hatte ihm Botschaften gesandt, sie an der Pforte zu treffen, doch er war nie dort erschienen.
Sie vermisste ihn so sehr, dass es wehtat. Doch es gab einfach keinen Grund, ihn zu treffen, keine Ausrede, die ihre Liebe vor den Blicken der beiden Königinnen verbergen konnte. Nepumuk war tapfer genug, um dem Drang zu widerstehen, während Elysa nicht an sich halten konnte.
Ach, würde es nur einen neuen Krieg geben! Einen Grund, warum sie Nepumuk treffen sollte.
Irgendeine Ausrede. Sie würde sterben dafür.
Etwas weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie konzentrierte sich und sah ein Flugwesen am Horizont, das mit schweren Flügelschlägen näher kam. Sie verengte sie Augen.
Ein Mantikor, schwarz mit grünlicher Mähne. Das war Relabai!
Der Cereceri erblickte sie und landete neben ihr auf dem Turm des Sonnenschlosses. Nachdem er in seine menschliche Gestalt gewechselt war, brach er keuchend zusammen.
»Oberste Magierin! Wir müssen … sofort eine Truppe entsenden!«
»Atme erst einmal durch«, drängte sie ihn. »Was ist geschehen?«
»Cailandros … er hat … den Magier gefangen«, brachte Relabai japsend hervor. Er presste sich die Fäuste vor die Brust.
Elysa kannte Cailandros. Ein junger, elbischer General. Er hatte viel Potential, war jedoch etwas stürmisch und noch etwas zu selbstbewusst.
»Welchen Magier? Warum braucht er damit Unterstützung?«
»Den Strategen … Merkanto! … Er ist … tief im Schattenland. … Er hat ihm … eine Falle gestellt …«
Elysa hörte kaum noch zu. Merkanto! Nepumuks Hofmagier. Natürlich wusste sie von ihm. Sein Talent war überall bekannt. Cailandros hatte ihn im Schattenland gestellt?
Und nun war Relabai von dort bis ganz in den Süden geflogen.
»Warum bist du hier?«, fragte sie. »Warum hast du nicht die Weißen Wächter gefragt?«
Warum bringst du diese Entscheidung zu mir? Warum bringst du mir die Gedanken an Nepumuk?
»Sie haben … keine Ressourcen …«, ächzte Relabai. »Mehrere Truppen … lenken sie ab und … ich fürchte, das ist … Merkantos Plan … also … müssen wir … ihn überraschen …«
Merkantos Genie war weithin bekannt. Es war gut möglich, dass er freiwillig in Gefangenschaft geraten war. Und so, wie Elysa Cailandros kannte, würde der Elb leicht darauf hereinfallen. Er überschätzte sich selbst zu oft.
»Ihn überraschen? Wie?«
»Schickt die … Sonnenstrahlen …«, bat Relabai. »Dann kann er … nicht entkommen …«
Die Sonnenstrahlen! Das war ein kluger Schachzug von Relabai. Niemand rechnete mit dieser unglaublich schnellen Eliteeinheit. Merkanto würde nicht erwarten, dass sie eingriffen, oder wenigstens nicht so früh. Relabai hatte sich fast zu Tode gehetzt, um seinen Feind zu überrumpeln.
Elysa wusste, dass sie nach unten eilen sollte. Jede Sekunde zählte. Und wenn das Sonnenland Merkanto gefangennehmen konnte, würde dies das Schattenland empfindlich schwächen. Er war ein grandioser Stratege. Ein Meister seines Fachs! Die Königin der Nacht könnte ohne ihn keinen so erfolgreichen Krieg führen und Nepumuk würde für seine Freizahlung einiges opfern.
Es wäre ein großer Gewinn.
Doch es gab ein Hindernis: Es ging um Nepumuk. Und Elysa drängte sich der Gedanke auf, dass sie ihn nicht verletzen könnte. Wenn sie ihm dagegen half, seinen Magier zu behalten, würde er sich vielleicht wieder an sie erinnern.
Auf keinen Fall wollte sie ihm das nächste Mal bei Verhandlungen über Merkantos Freiheit gegenübertreten. Sie könnte ihm niemals dieses Druckmittel vor die Nase halten und ihn damit erpressen. Das würde ihr Herz nicht überstehen!
»Ich kümmere mich darum«, versprach sie dem immer noch keuchenden Relabai. »Ruh dich aus.« Und dann ging sie langsam hinunter und überlegte, wie lange sie ihren Bericht hinauszögern konnte.
»Aber sie sagte, sie würde sich darum kümmern!« Relabai deutete auf Elysa. »Eure höchste Magierin, Majestät, und sie hat gelogen.«
Die Königin der Sonne drehte sich um. Ihr strahlender Blick auf dem Gesicht, das zur Hälfte von einem Helm verdeckt war, brannte sich in Elysas Seele. »Ist das wahr?«
»Ich … es war nur …«
»Und jetzt ist er tot!«, fuhr Relabai fort. Die Stimme des mächtigen Kriegers brach. »Es ist ihre Schuld, Majestät. Elysa hat ihn getötet.«
Die Magierin wich dem Blick ihrer Königin aus. Sie konnte sie nicht anlügen. Und sie konnte dem brennenden Blick der Königin des Tages nicht standhalten.
Sie hörte Getuschel unter den anwesenden Zeugen.
»Elysa Blackwood.« Die Königin klang enttäuscht.
Elysa hob den Blick. Die Traurigkeit, die ihr entgegenblickte, war erdrückend.
Langsam schüttelte die Königin den Kopf. »Gerade von dir habe ich so viel mehr erhofft.« Sie hob die Hand und goldenes Licht erstrahlte um Elysa. Einen Schutzzauber brauchte sie erst gar nicht zu rufen. Die Königin der Sonne war mächtiger als jeder Bewohner des Sonnenlands. »Sage die Wahrheit.«
»Es stimmt. Ich half Merkanto, zu fliehen.«
»Warum?«
»Für Nepumuk.«
Die Königin seufzte. »Nun weiß ich, was dein wahrer Name bedeutet. Du wirst ein trauriges Schicksal erleiden.«
»Bitte …«, flehte Elysa. Doch ihre Königin erhörte sie nicht.
»Ich verbanne dich«, sprach sie. Die Worte schallten in Elysas Ohren. »Du hattest eine Position der Macht, und du hast sie missbraucht. Du hast zugelassen, dass Sonnenländer sterben, die dir vertrauten, dass du sie beschützt. Der Tod wäre zu gnädig für dich, Aelinos. Und für den Verrat einer obersten Magierin soll es keine Gnade geben.«
Elysa schlug sie Augen nieder. Sie spürte, dass ihr Körper sich veränderte. Ihr gesamtes Wesen wandelte sich.
Ihre Königin hatte recht. Die Verbannung war schmerzhafter, als es ein Tod gewesen wäre. Tränen rannen unter ihren Lidern hervor.