So nervös wie heute hatte Alex den Zentauren noch nie gesehen. Unruhig trabte Karduk vor seinen Schülern auf und ab und kontrollierte ihre Rüstungen und die Klingen in ihren Händen.
»Also, ihr braucht überhaupt nicht nervös sein«, verriet er ihnen. »Ihr werdet das alle großartig machen!«
Es war ein jährliches Ereignis. Vertreter der Kriegerorden in der Nähe kamen vorbei, um sich die Rekruten der Abschlussklasse anzusehen. Und nun waren sie die Abschlussklasse, im Grunde schon halbe Soldaten. Sie kämpften in Rüstungen, die ihnen angepasst worden waren, mit stählernen Klingen. Die Schwerter waren noch stumpf, doch davon abgesehen konnten sie nun herausfinden, ob sie sich den Weißen Wächtern oder gar den Sonnenstrahlen anschließen würden, oder den Heilern und Priestern, den Wächtern magischer Quellen oder sogar der Palastwache.
Dieses Jahr kamen nur zwei Prüfer. Der erste war ein gewöhnlicher Kommandant der Weißen Wächter, der nach talentiertem Nachwuchs für den Krieg an der Grenze suchte. Doch der zweite Vertreter, das war eine ganz andere Geschichte. Es war ein Engel! Die sogenannte Himmelswacht bestand aus unsterblichen, geflügelten Wesen, die ihre Erben irgendwie unter gewöhnlichen Wesen rekrutierten und dann verwandelten. Sie kamen seit etwa einem Jahrzehnt jedes Jahr, doch sie hatten niemals einen Rekruten ausgesucht.
Das Gerücht ging um, dass sie jemand ganz besonderen suchten, um nach hunderten von Jahren ein neues Mitglied in die Himmelswacht aufzunehmen. Warum sonst sollten sie die neuen Rekruten immer wieder begutachten? Die Kinder glaubten nicht wirklich, dass einer von ihnen für diese Aufgabe in Frage käme, doch sie freuten sich darauf, einen Geflügelten von Nahem zu sehen.
Die Prüfung lief so ab, wie Alex es von den Geschichten der Älteren kannte. Vor den Augen der beiden Abgesandten führten die Schüler ein paar Übungen und Schaukämpfe vor. Nachdem er mit seinem Auftritt fertig war, wollte er zu Tommy laufen, der sicherlich etwas Zuspruch gebrauchen konnte, doch Karduk trat ihm in den Weg.
»Sithund. Nach dir wird verlangt.«
»Sie … wollen mich?«
»Du bist Klassenbester. Was dachtest du denn?« Der Zentaur schnaubte belustigt. »Komm, hier entlang.«
Alex versuchte, sich mit der Aussicht anzufreunden, bald mit den Weißen Wächtern in den Krieg zu ziehen.
Nachdem er das Zelt der Berater betreten hatte, erstarrte er jedoch. Der Elf der Weißen Wächter war nicht anwesend – nur der Engel.
Mit einem breiten Lächeln drehte sich der Weißgeflügelte um. »Alexander Sithund.«
»J-ja?«
»Du bist derjenige, auf den wir gewartet haben.« Der Engel verneigte sich leicht. »Wirst du mich begleiten?«
»I-ich … aber …«
»Fürchte dich nicht. Du wirst unser größter und mächtigster Krieger werden. Mit deiner Hilfe werden wir das Schattenland vernichten können.«
Das klang aberwitzig. Alex machte einen Schritt zurück. »Ich? Wieso?«
»Du hast ein reines Herz. Lass es uns gegen die Dunkelheit verwenden«, bat der Engel, der Alex‘ Widerstand spürte.
»Und das kann nur ich?«
Der Engel nickte.
Alex hätte fluchen können. Das war alles, was er sich immer gewünscht hatte! Er könnte ein großer Krieger werden und vielleicht wirklich etwas bewirken! Doch … »Das geht nicht!«, brach es aus ihm heraus. »Ich kann meinen Bruder nicht zurücklassen. Tommy braucht mich.«
Das Gesicht des Engels verzog sich missbilligend. »Dein Bruder kommt sicherlich auch ohne dich zurecht.«
Alex schüttelte den Kopf wild. Niemals dürfte er Tommy mit ihrer Mutter alleinlassen! Das würde seinen Bruder zerstören.
»Ist der Ruf deines Landes nicht wichtiger als dein Bruder?«
Nun versuchte es der Engel mit Patriotismus. Doch Alex war der Sohn einer Kriegsinvaliden. Er schüttelte den Kopf erneut, diesmal bestimmt. »Ihr findet einen anderen Jungen mit einem reinen Herz.«
»Vielleicht«, murmelte der Engel. »Ich sehe, ich kann dich nicht umstimmen. Und zwingen schon gar nicht. Du kannst gehen.«
»Danke«, murmelte Alex. Und, leiser: »Vielleicht, wenn ich älter bin.« Denn eigentlich wollte er diese großartige Chance nicht ausschlagen.
»Vielleicht.« Der Engel nickte.
Tommy sah missmutig zu den anderen Rekruten. Sie lachten und scherzten und warteten ungeduldig, dass sie zum Vertreter der Weißen Wächter vorgeladen wurden oder quetschten diejenigen aus, die das Zelt bereits hinter sich gelassen hatten. Glückwünsche wurden ausgeteilt.
Tommy wollte gerade im Selbstmitleid versinken, weil mit Sicherheit niemand ihn vorladen würden, als Karduk vor ihn trat. »Sithund? Komm mit.«
»Wa…?« Ungläubig folgte Tommy dem Zentauren zum zweiten Zelt. Als er die Planen zurückschlug, fand er sich einem Engel gegenüber.
»Thomas Sithund, richtig?«
»J-ja …«
»Setz dich.«
Während Tommy dem Befehl nachkam, führte der Engel aus: »Wir suchen schon eine ganze Weile nach einem Jungen wie dir. Jemand mit einer starken Seele könnte das Blatt in diesem Krieg für immer wenden.«
»Ein Junge … wie ich?« Tommy verstand gar nichts. »Aber ich kann doch nichts.«
»Ganz im Gegenteil! Du hast ein besonderes Talent, alle um dich herum zu ermutigen. Du könntest der fehlende Teil für unser Projekt sein.«
»Was für ein Projekt?«
»Es ist die Idee, einen besonders mächtigen Engel zu erschaffen, der das Schattenland für immer besiegen kann.«
Tommy sah auf seine Füße. »Ich weiß nicht …« Er war kein guter Kämpfer, und vor allem wollte er auch nicht kämpfen. Er wollte nicht fort von hier. Er liebte das Dörfchen und war gerne bei seinen Freunden. Dieses Angebot widerstrebte seinem Wesen. Er würde allem den Rücken kehren müssen, was er kannte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie seine Freunde ihm nachsehen würden, wenn er als einziger mit den Engeln ziehen würde. Davor graute es ihm.
Aber dann wiederum … »Ich würde Gold verdienen, oder?«, fragte er.
»Ja, aber du solltest dich nicht wegen des Reichtums dafür entscheiden.«
»Das ist es nicht. Aber das Gold könnte ich meinem Bruder schicken.« Ein vorsichtiges Lächeln trat auf seine Lippen. »Ich könnte Alex unterstützen und als Engel vielleicht sogar meiner Mutter helfen.« Macht und Gold waren ihm egal – aber wenn er sie schon gereicht bekam, könnte er sie doch für das Gute einsetzen!
Der Engel streckte die Hand aus. »Dann ist es beschlossen. Willkommen in der Himmelswacht, Thomas.«
Und draußen, in den Wäldern nahe der Grenze, lachte die Schwärze siegessicher aus. Ihre Geduld würde sich bald bezahlt machen. Im Zelt der Engel besiegelte Tommy das Schicksal der beiden Brüder.