Lachend rannte Tommy den springenden Zentaurenkindern nach. »Wartet!«
Die Hufe der schlanken Pferdewesen trugen sie viel schneller voran als den braunhaarigen Jungen, aber davon ließ sich Tommy nicht entmutigen. Er rannte ihnen lachend nach, sprang quietschend in die Luft und versuchte unermüdlich, sie zu fangen. Die anderen Jungen auf ihren dünnen Pferdebeinen kamen zurückgaloppiert, sprangen um Tommy herum und ließen schließlich zu, dass er einen von ihnen berührte, worauf dieser lachend die anderen Zentaurenfohlen jagte. Sie flitzten über die Wiesen davon.
Keuchend und mit rotem Gesicht stolperte Tommy zum See.
»Willst du nicht auch mitspielen?«
Alex saß im Schatten des Baumes, der hier seine Zweige über das Wasser hielt, und las ein Buch über Kriegsstrategie. »Nein, danke.«
»Komm schon! Du kannst nicht immer nur lesen.«
»Ich kann sehr wohl«, gab der Junge zurück. »Lass mich lernen, Tommy.«
»Aber wir haben Ferien.«
Alex seufzte und klappte das Buch zu, nachdem er einen Finger auf die Seiten gelegt hatte. Er sah seinen Bruder an. »Ich sagte nein!«
»Nur eine halbe Stunde.«
»Lässt du mich dann in Ruhe, du Nervensäge?«
Tommy strahlte. »Versprochen! Nein, noch besser – danach lernen wir zusammen.«
»Komm gar nicht in die Tüte!«
»Bitte! Du musst mir in Vampirkunde helfen! Und in Magie! Und beim Stockkampf!«
Alex schnaubte belustigt. »Das muss ich wohl«, sagte er stolz.
Tommy nahm seine Hand. »Aber erst spielen wir.«
Alex verzog das Gesicht, während sein Bruder ihn zu den spielenden Zentauren zog, die in diesem Moment mit donnernden Hufen zurückkehrten.
»Sieh es einfach als Vorübung für den Schwertkampfunterricht«, schlug Tommy vor. »Da muss man auch schnell sein!«
Alex seufzte. Sein Bruder grinste, denn er wusste genau, dass er das richtige Argument gefunden hatte.
Eine halbe Stunde später lagen sie im Gras und starrten Seite an Seite in den Himmel hinauf.
»War das so schlimm?«, fragte Tommy.
Alex sah den Wolken nach. Weiße Wolken, die vor seinen Augen andere Formen annahmen. »Tommy … kann ich dir etwas verraten?«
»Immer.«
»Aber du musst versprechen, es niemandem zu erzählen!«
Tommy setzte sich auf, sodass er Alex ansehen konnte. »Ich verspreche es, hoch und heilig!«
Alex zögerte trotzdem, bis er den Mut fand. »Jakir ist traurig.«
»Jakir?« Tommy runzelte die Stirn. Das war eines der Zentaurenkinder. »Er wirkte doch ganz fröhlich.«
»Ich weiß. Aber ich weiß einfach, dass er es nicht ist. Seine Schwester ist vor kurzem gestorben und er vermisst sie.«
»Alex.« Tommy sah ihn ernst an. »Veralberst du mich?«
Alex schüttelte den Kopf. »Kein Bisschen, Tommy. Ich schwöre es dir! Bitte glaub mir – Jakir geht es sehr, sehr schlecht. Und ich … ich habe Angst, dass …«
»Ich glaube dir«, sagte Tommy fest. »Und hab keine Angst, Alex.«
Sein Bruder umfasste Alex‘ Arme und drückte ihn an sich, als Alex zu schluchzen begann. Er klammerte sich an seinen Bruder. »Da ist so eine unglaubliche Traurigkeit in seinem Blick, Tommy! So was hast du noch nie gesehen.«
»Hey, wie wäre es … wenn wir etwas für ihn tun?«, schlug Tommy hilflos vor. »Wir trösten ihn.«
Alex umklammerte Tommys Handgelenke. »Du darfst ihm nicht sagen, was ich weiß!«
»Er wäre dir sicher nicht böse.«
»Bitte!«
»Schon gut.« Tommy lächelte. »Kein Sterbenswörtchen, ich verspreche es.« Er stand auf und reichte Alex die Hand. »Aber vielleicht können wir einfach besonders nett zu ihm sein. Ihn unauffällig trösten?«
»Ja … ich denke, das könnte gehen«, entschied Alex und ließ sich auf die Beine ziehen.
»Dann gehen wir lernen«, sagte Tommy mit einem breiten Grinsen. »Du hast versprochen, mit zu helfen.«
Mit einem leisen, traurigen Seufzen folgte Alex seinem Bruder.
Verstand Tommy denn nicht, welche Angst er vor der Dunkelheit hatte? Vermutlich konnte er es nicht sehen, nicht so wie Alex. In den Augen seines Bruders sah er immer nur Sonnenschein und Licht, unendlich viel davon. Er brachte es nicht übers Herz, all die Trauer zu formulieren, die er bereits erblickt hatte. Sonst würden sich Tommys Augen am Ende ebenfalls verdunkeln – und das wollte Alex nicht zulassen.
Er war zwar nur wenige Minuten älter als Tommy, aber er fühlte sich für ihn verantwortlich.
Also setzte er ein falsches Lächeln auf und ging lernen. Wenigstens musste er sich dabei nicht mehr den verborgenen Ängsten anderer Lebensformen aussetzen – Tommy kannte solche Ängste nicht und versprühte nur Freude.
Während die Brüder im Wald lernten und sich die Nacht senkte, bewegte sich ein Schatten dicht an der Grenze entlang. Sein Blick glühte unheilvoll und rot, doch keiner der Jungen bemerkte ihn.