»Was ist denn geschehen?« Entsetzt betrachtete Gudrun das Chaos. Die Einrichtung des Arbeitszimmers war in Kleinteile zerschlagen worden. Nepumuk marschierte zwischen den Trümmern von Bücherregalen und dem Schreibtisch auf und ab. Erst jetzt bemerkte er sie und stoppte.
»Iljan ist fort«, sagte er.
»Ging darum der Trubel der letzten Wochen?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, brüllte Nepumuk. Der Beweis dafür, wie sehr ihn das Verhalten seines Sohnes in Wahrheit beunruhigte.
»Natürlich.« Gudrun senkte den Kopf. Geduldig wartete sie, bis Nepumuk weitersprach.
»Merkanto sollte ihn zurückholen. Doch er ist nicht zurückgekehrt.« Der Graf seufzte. »Er wurde sicherlich nicht von diesem naiven Narren gefangengenommen, was bedeutet … Iljan hat ihn irgendwie überzeugt, ihm zu helfen. Merkanto hat mich verraten!«
Seine zornige Stimme konnte nicht verbergen, wie verletzt er war. Nicht vor Gudrun. Sie wusste, dass Nepumuk ein gutes Herz hatte, auch wenn er es nicht mehr zeigte und niemand ihr glauben würde.
»Herr, ich würde … ich würde Euch niemals verraten.« Sie sah auf. »Schickt mich ihm nach.«
»Dich?« Nepumuk lachte trocken. »Oh nein, Hexe, ich schicke jemand anderen. Für diese Aufgabe brauche ich jemand kompetenten.«
Er wollte sie nicht fortschicken. Nicht auch noch Gudrun verlieren. Das konnte sie akzeptieren. Nepumuk liebte nicht viele. Iljan und Merkanto und Gudrun – und zwei von diesen Personen waren nun fort.
»Natürlich.« Sie drehte sich um und trat den Rückzug an. Nepumuk war zornig und aufgewühlt. Da hatte er keine Kontrolle über sich. Er konnte wild um sich schlagen und konnte andere dabei verletzen. Gudrun wollte nicht, dass er sich auch noch Sorgen um sie machen müsste, weil sie nicht rechtzeitig aus dem Weg gegangen war.
Sie würde abwarten, auch wenn ihr das schwerfiel, und ihn später trösten.
Früher, als sie erwartet hatte, ereilte sie jedoch ein Ruf. So schnell sie konnte, eilte sie erneut zu Nepumuk.
Diesmal empfing er sie in seinem Palast, stolz und ruhig auf seinem Thron. Seine Augen waren schwarz, nicht länger aufgewühlt und rot.
»Iljan ist fortgelaufen«, erklärte er ihr kalt und emotionslos ein weiteres Mal. Doch sie blickte hinter sein ruhiges Äußeres, sah die Sorge, die in ihm brodelte. Er war kein Monster. In Wahrheit liebte er seinen Sohn. »Was für Flausen der Junge auch immer im Kopf hat, man muss sie ihm austreiben. Ich habe seine Erziehung wohl zu sehr schleifen lassen.« Jetzt sah er Gudrun direkt in die Augen. Die Hexe erzitterte, ein wohliger Schauer kroch über ihren Rücken. Dieser Blick, scheinbar voller Hass, aber doch voller Liebe und Angst um seinen Sohn! Niemals war Nepumuk schöner gewesen.
»Finde den Jungen. Bring ihn her, gefesselt, wenn es Not tut. Ich lasse nicht zu, dass Iljan unseren Namen in Verruf bringt!«
Sie verbeugte sich tief. »Ich bin schon unterwegs.« Stolz ließ ihr die Brust schwellen.
Nepumuk hatte sich überwunden, sie auch von seiner Seite zu schicken. Ebenso gerne wäre sie bei ihm verblieben, aber sie würde tun, was immer er von ihr verlangte. Sie würde für ihn ins Feuer springen!
Er hatte verstanden, dass er ihr bedingungslos vertrauen konnte. Sie würde ihn nicht enttäuschen. Sie würde Iljan finden und zurückbringen. Dann würde er wissen, dass sie seine treueste Dienerin war. Er würde ihre Liebe erkennen und sie endlich erwidern können.
Dann würde er sie so lieben, wie er Iljans Mutter geliebt hatte. Nepumuks gebrochenes Herz würde heilen können. Iljan würde endlich diese Seite an seinem Vater sehen, die nur Gudrun durch all die Schichten seines Panzers erspähen konnte, mit dem scharfäugigen Blick der Liebe.
Alles würde gut werden. Sie würden ein glückliches, friedliches Leben in diesem wunderbaren Schloss führen. Mehr wünschte sich Gudrun gar nicht. Sie brauchte nur Nepumuk an ihrer Seite.
Und alles, was ihr noch im Wege stand, war Iljan.
Sie war sicher, dass sie auch mit dem Jungen klarkommen würde. Er war etwas, das Nepumuk liebte, also schätzte sie ihn auch sehr. Doch genau wie Nepumuk würde sie das nicht zeigen. Sie würde das tun, was Nepumuk wollte, und seinen Sohn ebenso wie er erziehen.
Zuvor aber musste sie ihn finden. Dann würde sie ihn zurückbringen, egal, auf welchem Wege.
Dann wird er es sehen, dachte sie vorfreudig. Dann wird Nepumuk mich endlich lieben.
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!