Die Tür seines Büros quietschte leise. Merkanto hob den Blick, bereits ein Lächeln auf den Lippen. Es gab nur zwei Personen im Schloss, die ohne zu Klopfen in dieses Zimmer treten durften, und eine davon kündigte sich über herrische, laute Schritte an.
Diesmal war es ruhig gewesen, was nur einen Schluss zuließ.
Iljan.
„Merkanto … hast du kurz Zeit?“
Er schob die Dokumente zusammen. Gerade hatte er einen weiteren Schlachtplan ausgearbeitet, für einen Kampf, der womöglich niemals stattfinden würde. In seiner Freizeit arbeitete Merkanto oft an solchen Plänen. Sein liebstes Szenario war die epische Schlacht gegen das Sonnenland, die stattfinden würden, sollte man jemals alle Kräfte des Schattenreichs vereinen können. Es würde mit einer ausgeklügelten Falle für die Anführer beginnen, mit etwas Geplänkel, bevor die mächtigen Feuerdrachen ins Feld gesandt wurden …
Er konzentrierte sich auf seinen Gast, der heute etwas zu wehmütig wirkte. Statt freudestrahlend von irgendwas zu berichten, wie er es sonst tat, wenn er ins Arbeitszimmer kam, war der Vampir in der Tür stehen geblieben. Er trug einen merkwürdigen Umhang aus schwarzem Pelz. „Iljan. Warum so ernst? Möchtest du etwa wandern gehen?“
„Eher … eine Reise … machen.“
„Nepumuk hat mir nichts davon gesagt.“ Und das war höchst ungewöhnlich. Inzwischen übernahm Merkanto für Iljan die Rolle eines Onkels, und wurde von dessen Vater häufiger mal damit betraut, auf den Jungen aufzupassen.
„Tja …“
„Er weiß es nicht.“ Merkanto seufzte leise. Das würde sie beide in Schwierigkeiten bringen. „Ich muss ihm davon erzählen, das weißt du, Iljan.“
Nun sah der junge Vampir endlich auf. „Bitte … Ich kann einfach nicht hierbleiben und den guten Sohn spielen. Du weißt, wie sehr ich es hier hasse. Ich will kein Monster werden, wie … wie Vater.“
Das konnte er verstehen, dennoch … „Wir können uns nicht aussuchen, als was wir geboren werden, Iljan. Das hatten wir doch schon. Wir alle müssen unsere Rolle akzeptieren.“
„Und was, wenn nicht?“, fragte Iljan aufgeregt. „Es gibt Geschichten von guten Wesen, die zu Schattenländern wurden. Wieso nicht andersherum?“
Merkanto riss die Augen auf. „Das willst du versuchen? Iljan, das wäre dein Tod!“ Der Zauberer sprang auf. „Ich rufe Nepumuk zurück, jetzt.“
„Nein, Merkanto, bitte!“ Iljan versperrte ihm den Weg. „Selbst wenn ich sterbe, wäre ich immer noch glücklicher als hier. Lass es mich wenigsten versuchen. Denn wenn das nicht klappt, bleibt mir nur ein Ausweg.“
„Iljan …“ Der Magier zögerte. Was sollte er tun? Er brachte es kaum über’s Herz, den Jungen zurückzuweisen. Ihn zu verraten schon gar nicht, auch wenn es seine Pflicht wäre. Irgendwann musste Iljan aus seinem Traum erwachen, aber musste denn wirklich Merkanto derjenige sein, der ihn in die harsche Realität zurückholte? „Du weißt, ich wünsche dir alles Glück der Welt, mein Junge. Aber ich kann dich nicht auf eine solche Selbstmordmission ziehen lassen. Sie werden dich in der Luft zerreißen.“
„Ich habe einen Plan“, widersprach Iljan mit fester Stimme. „Über die geheimen Pfade der Werwölfe kommt man ungesehen bis zur Grenze. Ich weiß auch schon, wie wir ins Schattenland gelangen. Danach werden wir uns notfalls bis zur Königin durchkämpfen.“
„‚Wir‘?“ Das waren Neuigkeiten.
Iljan nickte. „Ich habe eine Freundin. Jackie. Sie wurde von den Werwölfen aus dem Sonnenland verschleppt.“
Merkanto atmete tief durch. Immerhin wäre der Junge nicht allein. Doch diese Jackie war vermutlich auch sehr jung. „Das klingt immer noch sehr unsicher.“
„Natürlich ist es ein Risiko. Aber wir müssen es wagen.“
Merkanto schüttelte den Kopf. „Weißt du, was dein Vater mit mir anstellt, wenn er herausfindet, dass ich Bescheid wusste und nichts getan habe? Wieso hast du mit mir sprechen müssen, Iljan? Du lässt mir doch keine Wahl.“
„Oh doch!“ Iljan streckte sich ein Stück. „Merkanto … willst du mit uns kommen?“
„Was?!“
„Heute Abend brechen wir auf“, sagte Iljan und seine Stimme gewann erstmals an Sicherheit. „Du hast mir oft genug erzählt, wie leid du die Kriege bist. Also komm mit uns.“
Merkanto schüttelte den Kopf. „Iljan, ich bin Befehlshaber der dunklen Armee. Sie würden nie -“
„Du hast immer ehrenvoll gekämpft. Sie werden dir verzeihen.“
Das würden sie niemals. Er hatte selbst genug Verräter jagen lassen, um das zu wissen. „Es ist deutlich wahrscheinlicher, dass wir alle sterben.“
Iljan nickte. „Dann sterben wir für einen guten Zweck, statt zu leben, um der Dunkelheit zu dienen.“
Da war ein Feuer in den Augen des Jungen. Er glaubte felsenfest daran, dass es klappen könnte. Und Merkanto musste bei aller Weisheit anerkennen, dass er ihm zu vertrauen begann. Iljan hatte etwas, das sein Vater sich nur mit Drohungen und Lügen erkaufen konnte: Führungsstärke. Vielleicht würde es ja wirklich funktionieren, vielleicht …
Er strich über den Schreibtisch, in dessen Holz noch immer die Spuren von Kendreeks Krallen prangten.
„Verdammt noch eins, Iljan … das hast du gut gesagt. Also schön, wo treffen wir uns? Und ich muss dich vorwarnen – ich werde noch jemanden mitbringen.“
„Wen?“, fragte Iljan verwirrt, als ein lauter Alarm durch das Schloss hallte.
Vampir und Magier zuckten zusammen.
„Nepumuk!“, fluchte Merkanto. „Iljan, lauf. Jetzt. Bevor dein Vater hier ist.“
„Aber …“
„Kein Aber! Hol deine Freundin, und dann flieht!“
„Wenn Vater herausfindet …“
„Er wird es nicht herausfinden. Lauf, Iljan. Mir wird nichts passieren.“ Merkanto eilte zum Regal hinter seinem Schreibtisch. Hier bewahrte er, versteckt hinter den Büchern, seinen wertvollsten Besitz auf. Dokumente, die man als Druckmittel einsetzen konnte. Magische Amulette. Und einen Trank.
Iljans Augen weiteten sich, als er das Fläschchen sah. „Amnesietrank … aber …“
„Keine Sorge, dein Vater wird von mir nichts erfahren.“ Merkanto entkorkte das Fläschchen. „Flieh, Iljan. Ich wünsche dir viel Glück, dass dein Traum wahr wird. Und … es war schön, dich gekannt zu haben, mein Junge.“
Damit kippte er den Inhalt der Flasche hinunter.
Dass der Vampir floh, hörte er schon nicht mehr. Wie Feuer jagte ein Prickeln durch sein Gehirn. Merkanto presste die Hände gegen die Schläfen.
Er hatte noch nie einen Amnesietrank genutzt, jedenfalls nicht selbst. Man nutzte sie zur Folter, wenn das Verhör selbst vorüber war. Gefangene Sonnenländer bekamen den Trank eingeflößt. Dann folgte ein Zeitfenster, in dem der Trank wirkte. Alles, woran man in dieser Zeit dachte, wurde vom Trank rückwirkend gelöscht.
Mit den Sonnenländern sprach man vielleicht über Hoffnung, um dann zuzusehen, wie sie diese nach dem Trank vollkommen verloren. Manchmal plauderte man mit ihnen über die Liebe und die Familie, was sie zwangsläufig dazu brachte, an ihre eigenen Liebsten zu denken – und diese zu vergessen. Dann konnte man das Opfer zurückschicken.
Meistens jedenfalls. Manchmal ließ der Trank des Geist des Opfers zerrüttet zurück.
Merkanto dachte an Iljans Fluchtplan. An den Namen seiner Freundin – Jackie –, an die Werwolfpfade, an das Ziel der beiden. Nur so konnte er sicherstellen, dass Nepumuk nichts davon erfahren würde.
Die Erinnerungen waren nicht vollkommen verloren. Vielleicht könnte der richtige Reiz sie eines Tages wiederherstellen.
Er ließ sich auf den Stuhl fallen und stieß das Fläschchen um. Hoffentlich war Iljan bereits unterwegs. Vielleicht könnte er dort draußen glücklich werden, zusammen mit Jackie, fort aus diesem Schloss.
Er selbst war so nah dran gewesen. Es hätte nur etwas mehr Zeit gebraucht, um Askook und Kendreek zu holen, und sie wären …
Merkanto fuhr zusammen. Nein! Er durfte nicht an Kendreek denken, noch nicht. Oder er würde alles vergessen!
Nicht … an Kendreek … denken …
Doch die Gedanken sind ein störriges Ding. Sofort blitze Kendreeks Gesicht vor Merkantos Bewusstsein auf. Seine Stimme, sein Körper, ihre Berührungen und Küsse. Ihr Versprechen. Er ertastete die Krallenspuren unter seinen Fingern und ahnte, dass er auch ihren Ursprung vergessen würde, jene letzte gemeinsame Nacht.
I left a spare key on the table.
Never really thought I’d be able
To say I merely visit on the weekends.
I lost my whole life and a dear friend.*
Er presste die Hände gegen die Stirn und brüllte sich gedanklich an. Er musste an Iljans Flucht denken, an nichts anderes. Nur an Iljan.
Doch es war zu spät, das wusste er. Tränen quollen hervor, als ihm das bewusst wurde. Schluchzend beugte er sich über den Tisch.
So fand ihn Nepumuk wenig später. Der Blick des rotäugigen Vampirs musterte die Szene und fiel auf den leeren Trank.
„Was ist geschehen, Merkanto? Was hat mein Sohn dir angetan?“
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*»Call me«, Shinedown