»Bist du dir sicher?«
Alex nickte ernst. »Todsicher. Wir haben das doch besprochen, Tommy.«
Der jüngere Zwilling nickte widerstrebend. »Das kommt mir nur so merkwürdig vor.«
»Was daran ist merkwürdig? Wir machen das doch wie immer.«
»Nein, diesmal … diesmal wusstest du was, das man nicht wissen konnte.«
Alex stellte sich dumm, doch er wusste, worauf sein Bruder hinauswollte.
Schon zwei Jahre kannte Tommy jetzt sein Geheimnis, dass er Gefühle anderer viel besser wahrnehmen konnte als sonst jemand und deshalb auch viel lieber unter sich war. Von den Stimmen in seinem Kopf hatte Alex Tommy aber noch nichts erzählt. Sie waren vor einigen Monaten hinzugekommen und klangen wie die Stimme des Freundes, nur eben, dass außer Alex niemand sie hören konnte. Er hatte lernen müssen, nicht mehr sofort auf alles zu antworten, was er hörte, um sich nicht zu verraten.
Sie hatten begonnen, als ‚Seelenflicker‘ zusammenzuarbeiten. Alex verriet Tommy, welche düsteren Gedanken ihre Freunde quälten, und Tommy arbeitete dann dagegen. Natürlich verriet Alex nicht viel, nur dass Tommy zu diesem oder jenem nett sein sollte. Bei Jakir hatte ihre Zusammenarbeit ausgezeichnet funktioniert und der Zentaur hatte einen ganz neuen Lebenswillen entwickelt. Für Alex war es, als wäre Tommy eine Kerze, die die Dochte aller um sich herum ebenfalls entflammte. Für Tommy war es ein Spiel, bei dem er einen Freund zugeteilt bekam, mit dem er etwas mehr Zeit verbringen sollte.
Ihr heutiges Ziel war Mari, eine junge Elfe, die noch sehr neu im Dorf war. Sie vermisste ihre Heimat und fühlte sich fehl am Platz, wie Alex erfahren hatte. Die Brüder hatten den Plan ausgeheckt, sie mit einer kleinen, verspäteten Willkommensfeier zu überraschen.
Von der Stimme in seinem Kopf wusste Alex in etwa, worüber sich Mari freuen würde.
Tommy hatte seine Tipps befolgt, sich aber erheblich darüber gewundert. Zu recht, denn Alex hatte höchstens fünf Worte mit Mari gewechselt. Woher sollte er also mehr wissen als alle anderen Kinder?
Aber Tommy war sein Bruder und vertraute ihm. Und deshalb nickte er auch und akzeptierte, dass Alex sich sicher war. »Fangen wir an. Ich glaube, da kommt sie.«
Die Brüder kauerten in einem kleinen Wäldchen am Rand des Weges, der von der Militärschule zum Dorf führte. Auf ebenjenem Weg näherten sich nun endlich Schritte. Um diese Zeit müsste es eigentlich Mari sein, und wie erhofft kam nur wenig später ihr roter Schopf in Sicht.
»Na also – Überfall!« Tommy flitzte los, während Alex hinter dem Baum blieb.
Der Jüngere trat auf den Weg und winkte. »Hallo, Mari.«
Das Elfenmädchen erstarrte, und Alex ebenso. Er spürte ihre Angst aufwallen, stärker, als er es je für möglich gehalten hatte. Bilder blitzten vor seinem Auge auf, Erinnerungen, die nicht seine waren, und der Schrecken, der darin mitschwang, nahm ihm den Atem.
»Willst du nicht mal eben mit in den Wald kommen?«, fragte Tommy getreu ihres Plans und sagte damit genau das Falsche.
»Ihr habt es also herausgefunden?« Tränen schimmerten in Maris Augen. Sie hatte die Hände vor Wut geballt. »Findest du das etwa lustig?«
»Ich …« Tommy verstand nicht, was hier los war. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihren Plan sofort durchschauen oder sich wundern würde. Aber nicht mit diesem Wutanfall.
»Wer hat dir davon erzählt?«
»Niemand! Ich … Alex meinte …«
»Du bist so ein Idiot, Thomas Sithund!« Mit diesen Worte drehte sich Mari um und stürmte davon.
»Warte«, rief Tommy ihr nach. »Wir haben doch die Überraschung …«
Dann drehte er sich um und sah Alex an. »Was hast du getan?«
»N-nichts.« Doch Tommys Bruder war blass. Das wurde er eigentlich nur, wenn er schwindelte.
»Du hast mich reingelegt!« Anklagend zeigte Tommy mit dem Finger auf ihn. »Du hast mich benutzt, um Mari wehzutun!«
»Nein, ich … Tommy …«
Doch Tommy drehte sich um und rannte seinerseits los, allerdings in die andere Richtung. »Das sage ich Mutter!«
Alex kam ihm nicht nach. Tommy brauchte allerdings keine besonderen Kräfte, um das Entsetzen im Blick seines Bruders zu deuten.
Was hatte sich Alex nur gedacht? Tommy war sich sicher gewesen, dass Alex seine unverständlichen Kräfte nur einsetzen würde, um anderen zu helfen. Nun hatte er ihn irgendwie dazu gebracht, Mari zu verletzen. Wie, das verstand Tommy nicht, aber Alex hatte sicherlich gewusst, was passieren würde. Er kannte doch auf irgendeine Weise die Gedanken anderer … Er hatte versucht, es zu verbergen, aber Tommy war vielleicht kein Telepath, doch er konnte seinen Bruder lesen. Er wusste es, obwohl Alex es zu verbergen versuchte.
Aber wie konnte ein so empfindsames Wesen wie sein lieber Zwilling so eine hinterhältige Falle planen?
Er wurde langsamer. Seine Wut verrauchte.
Vielleicht hatte Alex in seinen Gedanken gelesen, dass er Mari sehr mochte. Vielleicht hatte sein Bruder Angst gehabt, Tommy vollkommen an jemand anderen zu verlieren.
Tommy zögerte. Konnte er das seinem Bruder wirklich vorhalten?
Er seufzte und sah zurück. »Ich vergebe dir«, murmelte er leise. »Dieses Mal. Jeder macht mal einen Fehler.«
Er würde ihrer Mutter nichts sagen.
Tommy sah es nicht, doch im Wald hinter den Wiesen folgte ein rotäugiger Blick jedem seiner Schritte, und eine Stimme flüsterte: »Ich habe Geduld.«