»Denkst du, sie wird es merken?«
Tommy sah nachdenklich auf den Boden, wo die schlammigen Fußspuren prangten, statt ihm zu antworten. Alex trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Tommy?«
»Wir machen einfach schnell sauber«, entschied Tommy.
Alex stöhnte. »Och, nein!«
»Es ist der einzige Weg.« Tommy lief bereits in die Küche.
Ales folgte seinem Zwillingsbruder leise, doch er sprang vor, als Tommy versuchte, auf die hohe Anrichte zu kommen. Unaufgefordert machte Alex ihm eine Räuberleiter, sodass Tommy oben zwischen dem schmutzigen Geschirr einen Lappen suchen konnte.
Das war gar nicht so einfach, aber Alex blieb stur stehen und ertrug das Gewicht schweigend.
»Da ist nichts.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja«, sagte Tommy und kletterte von den Händen seines Bruders herunter. Er schluckte. »Nur irgendwas ekelig Schleimiges. Wir müssen an den Lagerschrank.«
Mit mulmigem Gefühl wandten sich die beiden Jungen der Tür gegenüber der Küche zu. Der Eisengriff war von Rost gezeichnet, das Holz angelaufen. Ein paar Kartons stranden davor.
Langsam traten die Kinder auf den Flur. Tommy räumte die Kartons an die Seite, was Alex alleine vor der Tür zurückließ. Er schluckte und streckte die Hand aus, um sie um den Griff zu schließen. Der Rost war rau unter seinen Fingern.
»Langsam«, warnte ihn Tommy.
»Ich weiß!«, zischte Alex gereizt. Dann drückte er die Klinke ganz vorsichtig herunter. Es knirschte leise. Die Tür bewegte sich nur langsam über die Dielen. Mit angehaltenem Atem zog Alex immer nur ein winziges Stück. Dennoch knarzten die alten Scharniere.
Die beiden Jungen fuhren zusammen und sahen zum Schlafzimmer. Die Tür war leicht angelehnt, dahinter lauerte Dunkelheit.
Doch nichts rührte sich.
»Sie schläft«, hauchte Tommy. »Schnell jetzt!«
Alex schluckte und griff in den Vorratsraum. Er spürte Spinnweben über seine Haut streichen, dann stießen seine Finger auf Stoff. Er atmete aus und zog.
Der Stoff klemmte. Ehe er sich besinnen konnte, hatte er auch schon mit einem Ruck gezogen. Auf der anderen Seite der Tür klirrte etwas laut.
»Alex!« Tommy war blass geworden. Die beiden Jungen wichen vor der Tür zurück, tauschten einen panischen Blick und sahen dann zur Schlafzimmertür.
»Was ist das für ein Lärm?«, ertönte die schlaftrunkene Stimme ihrer Mutter. »Was treibt ihr da schon wieder?«
Alex und Tommy flohen zurück in die Küche, als sie Schritte hörten. Sie pressten sich gegen die hintere Wand, neben den Ofen, und Alex steckte das Tuch eilig in seine Hosentasche, damit sie es nicht sah.
Ihre Mutter erschien auf dem Flur. Ihr braunes Haar war wirr und sie sah noch aufgedunsener aus als üblich, weil sie geschlafen hatte. Ihre roten Wangen verrieten Tommy, dass sie schlechte Laune haben würde. Sie hatte gestern wieder dieses übelriechende Zeug getrunken.
Nun stemmte sie die Tür zum Lager ganz auf, die hässlich quietschte, und verzog das Gesicht. Sie war jedoch schlagartig wach, als sie die Scherben auf dem Boden sah.
»Meine Vase!« Sie drehte sich um. Ihre Fassungslosigkeit wandelte sich rasch in Wut. »Wer von euch beiden war das?«
Tommy senkte den Kopf. Er stand Schulter an Schulter mit Alex und sein Nacken prickelte. Wenn sie beide still blieben, würde ihre Mutter sie zwar beide bestrafen, aber dafür nicht so sehr.
»Ich war es«, sagte Alex.
Tommy schnappte nach Luft, und seine Mutter ebenfalls.
Sie packte Tommys Bruder am Hemd. »Wieso?«
Das hätte Tommy auch zu gerne gefragt. Sie hätten doch bloß still sein müssen!
»Mama, bitte …«, setzte er an, doch er verstummte, als ihr wütender Blick ihn traf. So hatte er sie noch nie gesehen: Zornig, ja, aber er sah Tränen in ihren Augen, eine Verletzlichkeit, die sie gefährlich machte.
»Geh«, herrschte sie ihn an. »Raus mit dir!«
Verängstigt zog Tommy den Kopf zwischen die Schultern und lief auf den Gang. Er warf noch einen letzten Blick zurück. Alex schenkte ihm ein kleines, heimliches Lächeln.
Er hatte es für ihn getan, Tommy, damit nur einer von ihnen bestraft wurde.
Tommy ballte die Hände zu Fäusten. Das war ungerecht! Er hatte nicht darum gebeten. Er hätte sich gerne schlagen lassen, weil er wusste, dass das viel weniger schlimm gewesen wäre, als die Prügel, die Alex nun erwarteten.
Doch nun war es zu spät. Er hörte seinen Bruder dumpf schreien, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Tränen liefen über seine Wangen. Das war so ungerecht!
Er blieb lange draußen, bis sich die Nacht über das hügelige Land nah an der Grenze zum Schattenreich senkte.
Als er sich schließlich zurück zum Haus wagte, blickte er zunächst nur durch das Fenster. Er sah Alex auf dem Sofa sitzen. Er hielt eine Tasse Kakao in den Händen und sein Arm war verbunden. Ihre Mutter saß neben ihm und hielt den Jungen im Arm.
Tommys Herz zog sich noch weiter zu. Einer der wenigen guten Momente – und Alex hatte ihn ganz für sich!
Er wandte sich vom Haus ab und kauerte sich neben der Tür zusammen. Stören wollte er nicht, denn jede Störung konnte jene andere Mutter wieder hervorholen. Er wusste nur, dass er sich verraten und allein fühlte.
»Ich kann dir helfen«, wisperte der Wind.
Tommy sah auf. Wer hatte da gesprochen? Er konnte niemanden sehen. Doch war dort drüben, hinter der Grenze, eine dunkle Gestalt am Waldrand zu sehen?
»Ich kann dir Gerechtigkeit geben …«
Tommy sprang auf. Nein, dieser Stimme durfte er nicht zuhören! Er sah sich panisch um, dann floh er doch ins Haus. Sein Herz raste.
»Ich habe Geduld«, flüsterte der Wind draußen. »Ich werde warten.«
Drinnen floh Tommy direkt in sein Bett und zog sich die Decke bis über den Kopf.
Vielleicht konnte ihn die merkwürdige Flüsterstimme hier nicht finden.
Es dauerte, bis auch Alex kam und zu ihm ins Bett kroch. Die Zwillinge teilten sich ein Bett, aber heute war es Tommy darin zum ersten Mal zu eng.
»Geht es dir gut?«, fragte er seinen Bruder trotzdem flüsternd.
»Halb so schlimm«, log Alex und im Dunkeln blitzte sein Lächeln auf. »Schlaf gut, Tommy.«
»Du auch, Alex.«